Durchbruch 2018: Der Blick in die Zelle

Einzelzellanalyse klingt wenig spektakulär. Die Fachwelt aber ist begeistert, was dabei dank moderner Methoden alles möglich ist. Manche sprechen von einer Revolution in der Lebenswissenschaft. Für das US-Journal „Science“ der Durchbruch des Jahres.

Tausende Studien der vergangenen Jahre widmen sich der „Single Cell Analysis“ (dt.: Einzelzellanalyse). Eine ganze Reihe neuer Techniken macht es heute möglich, jede einzelne Zelle bis auf das letzte Detail zu untersuchen: von der Sequenzierung des Erbguts (DNA) bis zur Analyse der RNAs, die die Erbinformation in der Zelle erst in Proteine übersetzen. Man kann also immer genauer nachvollziehen, wann einzelne Gene in der Zelle ein- oder ausgeschaltet werden und wie daraus Organe und ganze Organismen entstehen.

Erleichtert wird das Ganze unter anderem durch neue gentechnische Methoden, mit der man etwa embryonale Stammzellen markieren kann, um zeitliche Abläufe zu untersuchen bzw. Entwicklungsstadien sogar in lebenden Organismen wie „Schnappschüsse“ festzuhalten. Mit der sogenannten Genschere CRISPR haben Forscher z.B. den genetischen Code einzelner Zellen verändert, was diese an all ihre Nachkommen weitergeben. Computer und bioinformatische Analysen helfen, die anfallenden Datenmengen zu bewältigen. So lassen sich parallel Tausende Zellen untersuchen.

Atlas der Zellen

Mit der „Single Cell Analysis“ betreibt man heute in erster Linie Grundlagenforschung. Man will damit aber nicht nur die Entwicklung und die Spezialisierung gesunder Zellen verstehen, sondern auch wissen, was passiert, wenn sie altern, sich regenerieren oder erkranken. In diesem Jahr haben etwa Studien an Fadenwürmern, Fischen und Fröschen auf Zellebene beleuchtet, wie Organe und Gliedmaßen wachsen. Forscher vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden haben beispielsweise das Genom des Plattwurms Schmidtea mediterranea untersucht. Aus ihm entstehen neue Würmer, wenn man ihn in kleine Stücke schneidet. Eine andere Arbeit, an der das Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien beteiligt war, widmete sich einem weiteren Regenerationskünstler, dem Axolotl.

Axolotl in Nahaufnahme

IMP

Axolotl in Nahaufnahme

Einzelzellanalysen spielten auch bei Studien an menschlichen Geweben sowie an kleinen organähnlichen Strukturen - sogenannten Organoiden - eine wichtige Rolle. Seit zwei Jahren arbeitet außerdem ein internationales Konsortium daran, einen kompletten Atlas aller menschlichen Zellen zu erstellen (Human Cell Atlas). Laut „Science“ hat die „Single-cell Revolution“ gerade erst begonnen. Autorinnen, Editoren, Leser und Leserinnen des US-Journals waren sich beim Durchbruch des Jahres heuer einig. Auch letztere entschieden sich bei einer Online-Abstimmung für den Blick in die Zelle.

Krater und Knochen

Wie immer nennt „Science“ in der letzten Ausgabe des Jahres noch neun weitere herausragende Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Dazu zählen weitere Studien aus der Zellbiologie. Sie beleuchten, welche Rolle winzige Proteintröpfchen bei der Übersetzung der Erbinformation spielen. Die Zulassung eines Medikaments zur Genstilllegung mittels RNA-Interferenz in den USA ist ein weiterer molekularbiologischer Fortschritt.

Radarvermessung des Kraters

Natural History Museum of Denmark, Cryospheric Sciences Lab, NASA Goddard Space Flight Center, Greenbelt, MD, USA

Krater unter Grönland

Auf der Liste der Durchbrüche findet sich auch die Entdeckung eines riesigen Kraters unter Grönland, die von Fachkollegen allerdings auch angezweifelt wurde. Eine weitere Top-Entdeckung ist laut dem Journal der bemerkenswerte Knochen einer jungen Frau, die vor rund 50.000 Jahren gestorben ist. Ihre Mutter war Neandertalerin, ihr Vater Denisovaner – ein Vertreter einer erst vor Kurzem entdeckten Menschengruppe.

Forensik und Fossil

Fortschritte in der Forensik waren ebenfalls eine Nennung wert. Einer der berühmtesten Cold Cases - der Fall des Golden State Killers - wurde heuer geklärt. Dabei halfen die genetischen Daten privater Webseiten, die mittlerweile Millionen Profile gesammelt haben. Seltsame Lebewesen - über einen Meter lang und flach wie eine Luftmatratze -, die vor 558 Millionen Jahren die Erde bevölkerten, haben es ebenfalls unter die Top Ten geschafft.

IceCube-Observatorium in der Antarktis

IceCube/NSF

IceCube-Observatorium

Außerdem genannt wird eine neue Methode aus der Röntgenkristallografie, mit der sich molekulare Strukturen in Minuten erfassen lässt. Der Fang eines Neutrinos, auch als Geisterteilchen bekannt, durch die IceCube-Kollaboration war ein weiteres wissenschaftliches Highlight 2018.

Der zehnte Punkt auf der Liste der „Science“-Durchbrüche ist zwar kein wissenschaftlicher Fortschritt im engeren Sinn, aus Sicht der Herausgebergesellschaft der Fachzeitschrift, der US-Wissenschaftsakademie AAAS, aber wohl ebenso wichtig: Die #MeToo-Debatte habe auch in der wissenschaftlichen Community der USA einiges ins Rollen gebracht.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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