Wie sich Menschenmassen bewegen

Bei einem Marathon laufen tausende Menschen durch Chicago, Wien oder Singapur. Wie sich die Masse vor dem Start verhält, haben Physiker nun berechnet. Die Modellrechnung könnte helfen, Menschenmassen bei Großevents besser und sicherer zu steuern.

Wer bei einem Marathon mitläuft und nicht zu den allerschnellsten gehört, läuft nicht sofort mit dem ersten Startschuss los, sondern wartet, bis man blockweise an den Start geführt wird. Die französischen Physiker Denis Bartolo und Nicolas Bain haben nun analysiert, wie sich die Menschen hier verhalten. Genauer haben sie dafür Berechnungsmodelle herangezogen, mit denen man auch das Verhalten von Flüssigkeiten beschreibt; also beispielsweise, wie sich Wein verhält, wenn er von der Flasche in ein Glas gegossen wird.

Marathonläufer kurz vor dem Start

Joaquin SARMIENTO / AFP

Marathonläufer kurz vor dem Start

Dabei sind zwei Komponenten entscheidend: einerseits die Dichte der Flüssigkeit - in dem Fall eben der Menschenmasse - und andererseits die Viskosität - also wie zäh sich die Flüssigkeit bzw. Masse bewegt, erklärt einer der Studienautoren Denis Bartolo von der Hochschule École Normale Supérieure in Lyon. „Wir hatten einfach die Idee, diese Logik auf Menschenmassen zu übertragen.“

Menschenmassen nicht wie Schafe

Bisher versuchte man, das Verhalten von Gruppen über das Verhalten des einzelnen zu rekonstruieren. Vor allem bei sozialen Tieren, wie etwa Schafen wendet man dieses Modell an, um über allgemeingültige Regeln vom einzelnen Tier auf eine Herde zu schließen. Solche Regeln wären etwa: Ein Tier bleibt nah bei der Gruppe und vermeidet Kollisionen. Auf Menschen lässt sich dieses Modell nicht so gut anwenden. „Wir haben deshalb gesagt, wir zoomen heraus und betrachten die Masse als eigene Einheit. Der einzelne spielt dabei keine Rolle. Auch bei einem Wein sieht man sich nicht an, wie sich die verschiedensten Moleküle verhalten. Das wäre viel zu komplex.“

Die Studie

Dynamic response and hydrodynamicsof polarized crowds, Science (3.1.2019).

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in „Wissen aktuell“ am 4.1. um 13:55.

Auf diese Weise kamen Bartolo und Bain zu folgendem Ergebnis: Während die Massen warten, bis sie an die Startlinie geführt werden, verhalten sich alle relativ gleich. Egal, welchen Abschnitt sich die Physiker angesehen haben, pro Quadratmeter standen immer zwei Personen. Diese Dichte des Menschenauflaufs beginnt sich dann zu verändern, wenn die Marathonverantwortlichen die jeweiligen Blöcke an die Startlinie heranführen. Dass es nun vorwärts geht und wie schnell es vorwärts geht, diese Information verbreitet sich gleichmäßig von der ersten Linie, die dem Marathonverantwortlichen folgt, über hunderte Meter zu den letzten in der Reihe. „Dabei rollt die Information wie eine gleichmäßige Welle mit 1,2 Metern pro Sekunde, ohne dass sich die Welle verzerrt oder aufstaut“, so Bartolo.

Information wandert immer gleich schnell

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Masse langsam in Bewegung setzt und an den Startpunkt geht, ist bei einem Marathon in Chicago genau gleich wie bei einem Lauf in Paris, so Bartolo und unabhängig davon, ob er im Jahr 2016 oder 2018 stattgefunden hat. „Wir haben sowohl den Marathon in Chicago als auch in Paris und Atlanta untersucht. Die Geschwindigkeit ist vermutlich die robusteste Einheit, die wir in all unseren Experimenten gemessen haben.“

Massen können allerdings nur von vorne gesteuert werden und nicht vom Rand, so die Physiker. Zudem scheinen sich Informationen über Richtungsänderungen nach wenigen Reihen zu verlaufen. Ob diese Modellrechnungen auch auf andere, weniger strukturierte Menschenansammlungen anwendbar sind, soll demnächst geklärt werden; etwa wenn viele zum Einstieg bei der Gondel drängen, Personen am Black Friday einen Fernseher für sich ergattern wollen oder sich in einem Stadion ein Fußballspiel ansehen. Sollte das funktionieren, könnte man besser abschätzen, wie sich Massen verhalten und somit das Verhalten bei Großevents besser und sicherer steuern, hoffen die Forscher.

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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