Schläft das Baby schon durch?

Kinder aufziehen ist mehr als nur Privatsache. Hinter der Frage „Schläft das Baby schon durch?“ stecken etwa viele soziale Normen und Erwartungen. Für Eltern ist das eine Herausforderung, wie die Kulturwissenschaftlerin Hannah Kanz in einem Gastbeitrag schreibt.

Der Raum wird von Licht durchflutet. Auf dem Boden verstreut liegen Matratzen, Sitz- und Stillkissen sowie Spielzeug. Ich sitze als europäische Ethnologin in einer Stillgruppe im Kreis junger Mütter. Sie tauschen sich aus, während ihre Kinder am Boden herumkrabbeln oder in ihren Armen liegen.

Porträtbild von Hannah Kanz

Privat

Über die Autorin

Hannah Kanz hat Europäische Ethnologie und Geschichte in Innsbruck und Belfast studiert. Seit August 2018 promoviert sie im Fach Europäische Ethnologie) an der Universität Innsbruck. In ihrer Freizeit ist sie als Theaterschauspielerin und Regisseurin tätig.

Lisa, eine der Mütter, berichtet, dass in ihrem Bekanntenkreis das Durchschlafen ein großes Thema sei. Glücklicherweise würde es ihr aber zunehmend besser gelingen, sich nicht auf Diskussionen einzulassen, um sich nicht von anderen verunsichern zu lassen. Eine weitere Mutter hakt gleich ein. Ihr käme sowieso vor, dass das Bauchgefühl zunehmend zurückgedrängt wird. Sie habe zeitweise einfach aufgehört, über ihre Ansätze mit anderen zu sprechen oder gelogen, um einer Konfrontation zu entgehen.

Berichte wie diese sind unter frisch gebackenen Müttern keine Seltenheit, denn sie stehen erheblich unter Druck. Wenn es um Kinder geht, dann hört sich der Spaß nämlich schnell auf. Themen, die sich um Kinder drehen, werden in regelmäßigen Abständen in die öffentliche Debatte eingebracht und heiß diskutiert. Im Zuge dieser medialen Aushandlungen werden aber nicht nur Fragen des Kinderwohls diskutiert, sondern implizit auch Vorstellungen über die Gesellschaft verhandelt. Zu den Dauerbrennern im deutschsprachigen Raum zählen zum Beispiel das Thema Stillen, die Rolle von Disziplin in der Kindererziehung und Kinderschlaf. Diese Themen treten in regelmäßigen Abständen in den Vordergrund des öffentlichen Bewusstseins.

Elternschaft als Herausforderung

Dass ein Neugeborenes das Leben der frisch gebackenen Eltern gehörig umkrempelt, liegt auf der Hand. Das gesellschaftliche und damit öffentliche Interesse an der nächsten Generation stellt Eltern aber vor weitere Herausforderungen. Auch wenn die Geburt eines Kindes und damit auch die Elternschaft natürlich erscheinen, sind Idealvorstellungen von Obsorge und Erziehung dem zeitlichen Wandel unterworfen und damit an historische sowie gesellschaftliche Konventionen geknüpft.

Zeitgenössische Elternschaft ist von einem Optimierungsgedanken geprägt. Kinder werden grundsätzlich als unfertige Menschen entworfen, die durch das Einwirken der Eltern geformt werden können. Dadurch werden sämtliche Entwicklungen des Kindes entweder als Erfolg oder als Misserfolg elterlichen Handelns verstanden. Diese Vorstellung erzeugt erheblichen Druck auf die Eltern. Verstärkt wird die Situation zusätzlich durch das gesellschaftliche Interesse. Nebst unterschiedlichen Experten und Expertinnen wird die Kinderentwicklung auch regelmäßig von Freunden und Freundinnen, den eigenen (Schwieger-)Eltern oder auch entfernten Bekannten abgefragt und die gewählten Methoden kritisiert.

Babys im Bett

APA/dpa-Zentralbild/Ralf Hirschberger

Wie man das Kind bettet, so liegt es

Meine Forschung dreht sich um den Diskurs zu Kinderschlaf, also wie das Thema verstanden, besprochen und gedacht wird. Zu einer der häufigsten Fragen, die jungen Eltern gestellt werden, zählt, ob ihr Baby denn schon durchschlafe. Das freundliche Interesse der fragenden Person am Wohl der Eltern, die wegen der kurzen Schlafphasen ihres Kindes in den ersten Monaten oder auch Jahren oft an chronischem Schlafmangel leiden, soll hier nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Trotzdem verbirgt sich dahinter mehr als nur der Auftakt zum Small Talk. Einerseits geht es um die Vorstellung, dass Durchschlafen ein zu erreichendes Ziel ist. Andererseits wird die Kompetenz der Eltern abgefragt. Schläft das Kind noch nicht durch, wurden von den Eltern offenbar noch nicht die richtigen Maßnahmen ergriffen. Doch selbst wie diese richtigen Methoden am besten aussehen sollen, ist heiß umstritten.

Der kindliche Tyrann

Für besondere Aufregung sorgte vor einigen Jahren der Ratgeber „Jedes Kind kann schlafen Lernen“ von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth. Er verspricht eine zielsichere Methode, mit der jedes Kind innerhalb von kürzester Zeit zum Durchschlafen gebracht werden könne. Die im Ratgeber präsentierte, sogenannte Ferber-Methode arbeitet mit Konditionierung. Das Kind wird im Kinderzimmer zu Bett gebracht. Wenn es, nachdem die Eltern das Zimmer verlassen haben, zu schreien beginnt, betreten die Eltern das Zimmer in zeitlich getakteten Abständen, die zunehmend länger werden. Diese Methode wird daher auch oft als kontrolliertes Schreienlassen bezeichnet. Das Kind soll dabei lernen, dass die Eltern zwar da, aber nicht immer auf Abruf bereit sind, und es sich daher selbst trösten muss.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 1.3., 13:55 Uhr.

Während die einen auf diese Methode schwören, empfinden sie die anderen als Kindesmisshandlung. Als eines der stärksten Gegenargumente wird ins Feld geführt, dass Kinder mit sechs Monaten noch kein Zeitgefühl haben und daher ihrem Empfinden nach eine Unendlichkeit lang nach Hilfe schreien. Wenn sie aufhören zu weinen, dann nicht weil sie gelernt haben sich selbst zu beruhigen, sondern weil sie aus Verzweiflung resignieren. In der Diskussion um die Ferber-Methode werden nicht nur Vorstellungen von richtigem und falschem Vorgehen, sondern auch verschiedene Menschenbilder verhandelt. Der Ratgeber betrachtet Kinder als konditionierbare Triebbündel, die durch die Einübung von Regelmäßigkeit diszipliniert werden sollten. Gegner und Gegnerinnen der Ferber-Methode sehen Kinder hingegen als hilfsbedürftige Wesen, nach deren Bedürfnissen sich das komplette Handeln und Tun der Eltern ausrichten sollte.

Ein Baby im Bett

AP

Elternschaft als Prisma

Wissenschaftlich-medizinisch lässt sich die Frage nach den Auswirkungen unterschiedlicher Einschlafmethoden nicht gesichert klären. Und so bleibt die Diskussion meist bei moralisch verhärteten Frontstellungen stehen. Letztlich zeigt sie aber, dass sich rund um Elternschaft unterschiedlichste gesellschaftliche Themen entfalten. Hier werden Leistungsgedanken und Optimierungsbestrebungen sichtbar und Ideale von Erziehung, Disziplin und einer besseren Zukunft durch die nächste Generation verhandelt.

Den Müttern aus der Stillgruppe hilft dieses kulturwissenschaftliche Potential, das der Erforschung von Elternschaftskultur innewohnt, leider wenig. Für sie heißt es vorerst: Scheuklappen aufsetzen und durchbeißen, bis die Kinder etwas größer sind.

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