Im Matriarchat sind Frauen risikofreudiger

Dort, wo Frauen das Sagen haben, sind Mädchen risikofreudiger als Buben. Ein Vergleich von Volksgruppen in China zeigt: Kulturelle Normen und das Umfeld prägen die Rollen der Geschlechter.

In der chinesischen Provinz Yunnan leben so viele kleine Volksgruppen wie nirgendwo sonst in ganz China. Mehr als ein Drittel der Bewohner gehört zu einer der 36 ethnischen Minderheiten, deren Lebensräume durch Gebirgskämme getrennt sind. Erst in der Schule treffen viele Menschen auf Angehörige einer anderen Gruppe. Mitunter begegnen sie dort einer völlig anderen Lebensweise, etwa wenn Kinder der Mosuo gemeinsam mit Kindern der Hani unterrichtet werden.

Frauen und Männer der Mosuo

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Frauen und Männer der Mosuo

Die Mosuo gehören zu den wenigen Völkern dieser Erde, die matrilinear leben; in China sind sie die einzigen. An der Spitze der Großfamilien steht eine Frau – meist ist es die Großmutter. All ihre Blutsverwandten wie Kinder leben im selben Haushalt, der Vater der Kinder hingegen nicht. Status und Besitz wird an die Töchter vererbt. Bei den Hani sind die Geschlechterrollen hingegen ganz klassisch verteilt, d.h. die Männer sind die Chefs in den Familien und die Erbfolge ist männlich.

Angeboren oder erlernt?

Die unterschiedlichen Geschlechterrollen in den beiden Minderheiten sind für viele - beim ersten Zusammentreffen - zu Beginn ein Schock, schreiben die Forscherinnen Elaine M. Liu von der University of Houston und Sharon Xuejing Zuo von der chinesischen Fudan Universität. Genau deswegen sei das Setting aber ideal für eine Studie zu vermeintlichen geschlechtertypischen Verhalten.

Konkret ging es darum, wieviel Frauen bzw. Männer riskieren. Üblicherweise gelten Frauen nämlich als risikoscheuer, das zeigen auch Studien – ob ihnen das in die Wiege gelegt ist oder ob es doch eher an ihrer gesellschaftlichen Rolle liegt, ist allerdings nicht restlos geklärt. Die gegensätzlichen Frauenrollen in den beiden chinesischen Volksgruppen könnten nach Ansicht der Forscherinnen zur Klärung beitragen.

Dafür haben sie Befragungen und Experimente an mehreren Volksschulen und einer Mittelschule in der Gemeinde Yongning (im Autonomen Kreis Ninglang) durchgeführt. Dort werden Mosuo- und Hani-Kinder in gemischten Klassen tagtäglich von denselben Lehrkräften unterrichtet. Erst- bis Fünftklässler (185 Mosuo, 167 Hani) von vier Volksschulen haben an der Studie teilgenommen, außerdem 80 Mittelschülerinnen und Mitschüler aus der siebten Schulstufe.

Bei den Experimenten durften die jungen Probanden zwischen sechs Lotterielosen wählen: Die Möglichkeiten gingen von einem sicheren Gewinn von drei Yuan (das entspricht ungefähr 40 Cent) bis zu einer 50:50-Chance zehn Yuan (1,30 Euro) zu gewinnen. Damit könnte man vor Ort fünf Eis am Stiel kaufen, wie die Forscherinnen in einer Aussendung die Aussicht auf die Gewinne beschreiben. Zum besseren Verständnis zeigten sie den Mädchen und Buben auch Bilder. An der Wahl des Loses ließ sich ablesen, wie risikoscheu bzw. -freudig die Mädchen und Buben sind, so die Autorinnen.

Gegenseitige Annäherung

Wirklich aufschlussreich war die Auswertung nach Altersgruppen. Bei den Mosuo-Erstklässlern riskierten die Mädchen mehr als die Buben, bei den Hani war es genau umgekehrt. Mit jedem Schuljahr wurden die Mosuo-Mädchen aber etwas risikoscheuer, in der fünften Klasse – also mit elf Jahren - waren manche sogar zurückhaltender als Mosuo-Buben. In der vierten und fünften Klasse hatten die Mädchen aus beiden Volksgruppen ein ähnliches Risikoverhalten. „Anscheinend gibt es eine Annäherung. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, umso ähnlicher werden sich die Mädchen“, so Liu in der Aussendung.

Die Buben der beiden Gruppen verhalten sich in allen Jahren relativ ähnlich. Und bei den Hani-Kinder gab es im Lauf der Jahre eine Annäherung zwischen den Geschlechtern, d.h. die Mädchen waren mit der Zeit etwas mutiger geworden, wie sie es bei ihren Geschlechtsgenossinnen bei den Mosuo gesehen hatten.

In der Mittelschule kam noch eine weitere Komponente hinzu: Aufgrund der Entfernung von zuhause müssen viele in Internaten leben. Dieses Zusammenleben hat laut den Forscherinnen ebenfalls einen Einfluss auf das Risikoverhalten. So verhalten sich etwa Mosuo-Buben, die mit vielen Hani-Buben zusammenwohnen, ähnlich riskant wie diese.

Einfluss der Gruppe

Die Ergebnisse bestätigen laut den Forscherinnen früher Untersuchungen, wonach Unterschiede beim Risikoverhalten in erster Linie der Kultur geschuldet, aber in jungen Jahren auch noch sehr beeinflussbar sind. Zuerst lernen die Mädchen und Buben die für ihre Volksgruppe typischen Rollenbilder. Im Alltag, unter anders erzogenen Gleichaltrigen verschieben sich die kulturellen Normen jedoch in relativ kurzer Zeit.

Ähnliches könnte auch für viele andere, scheinbar geschlechtertypische Verhaltensweise gelten, nicht nur für das Riskieren. Ob dabei der Einfluss der Umwelt von Dauer ist, lasse sich anhand der Daten nicht beurteilen, wie Liu und Zuo schreiben. Es könne genauso gut sein, dass sowohl Mosuo- als auch Hani-Kinder nach der Schule in ihre Dörfer zurückkehren und sich dort ganz wie ihre Eltern entsprechend der kulturellen Normen verhalten.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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