Hat der Mensch einen Magnetsinn?

Vögel, Fische, Schildkröten und viele andere Tierarten orientieren sich am Magnetfeld der Erde. Jetzt verdichten sich Hinweise, dass auch der Mensch so einen Magnetsinn besitzt: Doch das Sinnesorgan wurde noch nicht gefunden.

Es gibt Forschertypen, die das Sammeln von Daten als erste und einzige Tugend der Wissenschaft ansehen – und sich bei der Interpretation derselben betont zurückhalten. Joseph Kirschvink zählt eher nicht zu dieser Kategorie. Der Wissenschaftler vom California Institute of Technology ist überzeugt davon, dass die Geschichte der Sinne neu geschrieben werden muss.

Dass auch der Mensch Magnetismus wahrnehmen kann, das steht für ihn mittlerweile außer Zweifel. „Warum sollten es nicht so sein?", sagt Kirschvink im Gespräch mit science.ORF.at. "Im Tierreich gibt es so viele Arten von Säugetieren bis zu einfachen Einzellern, die sich am Magnetfeld der Erde orientieren. Angesichts dessen müsste man eher erklären, warum wir diesen Sinn verloren haben sollten.“

Hirnströme reagieren auf Magnetfeld

Hinweise für seine These hat Kirschvink jedenfalls in einem Laborversuch gefunden, wie nun im Fachblatt „eNeuro“ nachzulesen ist. Das Experiment lief so ab: Der Caltech-Forscher bat insgesamt 36 Probanden in einen von Radiowellen abgeschirmten Raum, setzte ihnen eine EEG-Haube auf und drehte das Licht aus, um möglichst alle äußeren Reize auf Null zu setzen.

Alle bis auf einen: Daraufhin setzte er nämlich einige Spulen unter Strom, erzeugte damit ein rotierendes Magnetfeld - und entdeckte im Hirn der Probanden tatsächlich ein Signal. Bei 30 Prozent der Probanden wurden die Amplitude der Alphawellen im EEG plötzlich kleiner. Sobald das Magnetfeld wieder verschwand, schwollen sie wieder an. Der Zyklus ließ sich auch mehrfach wiederholen - soweit die messbaren Befunde.

Für Kirschvink ist das ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der menschliche Körper über ein uraltes evolutionäres Erbe verfügt. Ein unbewusstes Erbe freilich, denn die Probanden spürten den Magnetreiz nicht, wie Kirschvink betont. „Dass wir von all dem nichts mitbekommen, ist durchaus zu erwarten. Wenn unser Gehirn beispielsweise den Sauerstoffgehalt im Blut regelt, dringt das auch nicht ins Bewusstsein vor, wie bei vielen anderen inneren Vorgängen auch.“

Kompass im Auge?

Naheliegender Einwand: Wenn bloß 30 Prozent der Probanden so eine Reaktion zeigen - haben dann die restlichen 70 Prozent ihr evolutionäres Erbe verloren? „Nein“, sagt Kirschvink. „Die Alphawellen im Gehirn treten nicht bei jedem auf. Manche haben sie, manche nicht.“ Im Grunde seien die Alphawellen nur ein Hinweis auf tieferliegende Vorgänge im Hirn, die eigentliche Signatur des Magnetsinns im Gehirn gelte es erst zu entdecken.

Das Experiment des Caltech-Forschers wirft auch sonst einige Fragen auf, etwa: Wenn Menschen tatsächlich Magnetfelder wahrnehmen können, dann müssen sie auch magnetisch empfindliche Zellen oder Rezeptoren besitzen. Wo sind sie? Kirschvink geht davon aus, dass das Mineral Magnetit in Zellen als eine Art Minimalkompass dient, ähnlich, wie das auch bei Zugvögeln vermutet wird. Diese Zellen könnten im Auge liegen, etwa in der Netzhaut.

Missing Link: Geozentrische Sprachen

Um seiner These mehr Nachdruck zu verleihen, plant Kirschvink nun einige Folgestudien. So will er beispielsweise die gleichen Versuche auch auf der Südhalbkugel durchführen, um zu sehen, ob die Reaktion im Labor von der geografischen Lage abhängt. Zu erwarten wäre es jedenfalls.

Soweit befindet sich wohl noch manches im Spekulativen. Sollte der Caltech-Forscher recht behalten, hätte er noch ein paar weitere überraschende Hypothesen zu bieten. Kirschvink will etwa auch Menschen untersuchen, in deren Sprache es keine Begriffe wie „links“, „rechts“, „vor“ und „hinter“ gibt. Australische Aborigines vom Stamm der Guugu Yimithirr wären Kandidaten dafür, oder auch Indigene im mexikanischen Bundesstaat Chiapas - Menschen also, für die sich der Satz „Der Busch ist westlich von meinem Fuß“ ganz natürlich anfühlt, weil sie sich hauptsächlich an Himmelsrichtungen orientieren.

„Ich vermute, dass der Magnetsinn in diesen Kulturkreisen stärker ausgeprägt ist“, sagt Kirschvink. „Ich könnte mir sogar vorstellen, dass sich diese Menschen bei vollem Bewusstsein am Erdmagnetfeld orientieren.“

Robert Czepel, science.ORF.at

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