Ein Besuch bei Slavoj Zizek

„Elvis der Kulturtheorie“ oder politisch unkorrekter, kommunistischer Macho? Slavoj Zizek lässt kaum einen kalt. Ein Besuch beim Philosophen in Ljubljana - zu seinem 70. Geburtstag.

Zizek wohnt in der slowenischen Hauptstadt unweit vom Bahnhof und vom autonomen Kulturzentrum Metelkova. Der erste Eindruck bei der Begrüßung auf der Straße: graublaues Poloshirt, Jeans und blaue Filzpatschen. Ein herzlicher Händedruck des freundlichen Bartträgers, Scherze vom ersten Augenblick. Ob ich schon mal hier war? „Viel zu sehen gibt es nicht“, sagt Zizek. „Ljubljana ist wie Graz, nur kleiner.“

Wichtiger als die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind jene von Zizeks Wohnung. Irgendwo hier muss die Küche sein mit den Socken in der Schublade, das war in einer Doku zu sehen. Eine kleine Stalin-Büste gibt es wirklich, versteckt hinter Parfumflacons.

Stalin-Büste bei Zizek

Lukas Wieselberg, ORF

Das Interviewzimmer besteht aus einem Tisch, zwei Sesseln, einer Wasserflasche mit zwei Gläsern sowie Bücherregalen, die bis an den Plafond reichen. Es ist aber kein einziges Buch zu sehen. Es handelt sich um das ehemalige Kinderzimmer seines jüngeren Sohns, erklärt Zizek, das nun zum Bücherzimmer werden soll. Er schreibt lieber neue Bücher, als alte umzuräumen. Rund 70 sind es mittlerweile, jedes Jahr kommt mindestens eines dazu. „Ich bin ein Workaholic. Wenn ich nicht jeden Tag etwas schreibe, kann ich nicht einschlafen. Obwohl ich ein Materialist bin, fühle ich mich sündig, wenn ich nichts arbeite, und denke mir: Warum hat Gott mich geschaffen, habe ich all das verdient?“

Ö1 Sendungshinweis

„Slavoj Zizek – ein Ereignis. Zum 70. Geburtstag des slowenischen Philosophen“: Dimensionen, 21.3.2019, 19.05 Uhr.

So ist Zizek auch zu seinem 70er weiter emsig – und streitbar. Er bezeichnet sich selbst als Kommunisten, eckt mit vielen seiner Thesen aber ausgerechnet in seinem linksliberalen Umfeld an. Jüngst etwa mit einem Plädoyer für toxische Maskulinität und dann einem Einwurf gegen den feministischen Versuch, die weibliche Brust und Vulva zu entmystifizieren – kleines Donnerwetter in den Sozialen Netzwerken inklusive.

Über die perfekte Lüge in Form der Wahrheit:

Witze als Methode

Zentraler Bestandteil der Methode Zizek sind Witze und Zoten. Sein Reservoir dafür ist fast so groß wie sein philosophisches und historisches Wissen. Beim Treffen in Ljubljana sind es gezählte 31 Witze. Ein bevorzugtes Ziel seiner Pointen ist politische Korrektheit. Einen Lieblingswitz dazu habe schon sein Philosophenkollege Jacques Derrida erzählt. In der dem Buch „Zizeks Jokes“ (Suhrkamp Verlag - Leseprobe) entliehenen Version geht er so:

„Eine Gruppe von Juden trifft sich am Sabbath in der Synagoge, sie erzählen, was sie falsch gemacht haben, und gestehen sich ihre Nichtigkeit ein. Als Erster erhebt sich ein Rabbi und sagt: ‚Oh Gott, ich weiß, ich bin wertlos, ich bin nichts!‘ Nach ihm steht ein reicher Geschäftsmann auf, klopft sich auf die Brust und sagt: ‚Oh Gott, auch ich bin wertlos, bin besessen von materiellem Reichtum, ich bin nichts!‘ Dann erhebt sich ein einfacher, armer Jude und spricht: ‚Oh Gott, auch ich bin nichts!‘ Der reiche Geschäftsmann stößt den Rabbi an und flüstert ihm voller Verachtung ins Ohr: ‚Was für eine Anmaßung! Wofür hält sich dieser Kerl, dass er es wagt, zu sagen, er sei ebenfalls nichts!‘“

Die Pointe illustriere, was mit politischer Korrektheit heute schiefläuft. „Die weißen liberalen Männer, die nur ja niemanden beleidigen wollen, sind wie der Rabbi und der Geschäftsmann: privilegierte Nichtse“, sagt Zizek. „Sie sind stets bereit, ihre Schuld am Kolonialismus und allem anderen Übel zuzugeben. Sie sind aber schuldig in privilegierter Weise. Je mehr sich diese weißen Liberalen selbst als ‚Nichtse‘ demütigen, desto mehr können sie sich zum universalen Richter über die anderen machen.“

Daraus speist sich auch die Logik der Identitätspolitik, jede und jeder soll in ihrer und seiner Identität anerkannt werden. Daran sei nichts prinzipiell auszusetzen. „Jeder Idiot wird deine Identität akzeptieren. Als solche bist du keine Gefahr“, so Zizek. Diskriminierte Gruppen sollten hingegen ihre eigene Universalität entwickeln. Nicht nach dem berüchtigten Maßstab der weißen, heterosexuellen Männer, aber in Anschauung des einzig tatsächlich universalen Widerspruchs. Und der ist für Zizek noch immer der Klassenkampf.

Ein posthumaner Kapitalismus entsteht

„Die Welt, in der wir leben, ist eine, aber sie ist es, weil sie durchzogen ist von demselben Antagonismus, der dem Herzen des globalen Kapitalismus eingeschrieben ist. Universalität ist nicht über und oberhalb von partikularen Identitäten verortet, sie ist ein Antagonismus, der jede Lebensweise von innen her durchschneidet“, schreibt Zizek in seinem soeben erschienenen Buch „Wie ein Dieb bei Tageslicht“ (Fischer Verlage - Leseprobe).

Der Titel des Buchs spielt auf ein Bibelzitat an, „wonach der Tag des Herrn kommen wird wie die Wehen einer Frau und wie ein Dieb in der Nacht“. Zizeks Dieb ist radikaler sozialer Wandel, der aber am helllichten Tag daherkommt. Der Kapitalismus, der alle festen Verhältnisse auflöst, alles Heilige entweiht und alles Ständische verdampft, wie es im „Kommunistischen Manifest“ heißt, macht sich nun daran, auch „das Menschliche“ zu verdampfen. Die Fortschritte in Bereichen wie Biotechnologie und Neurowissenschaften sowie die neuen Möglichkeiten digitaler Kontrolle würden zu etwas führen, das Zizek „posthumanen Kapitalismus“ nennt.

Warum die Idee von Europa noch immer wichtig ist:

Wie der genau aussieht, dessen ist sich Zizek nicht sicher. Aber seine alte Prognose, wonach man sich eher das Ende der Welt vorstellen kann als das Ende des Kapitalismus, wird irgendwie greifbarer. Während die Naturwissenschaften dank Gehirnenhancement, Genscheren und Co. neu definieren, was „Menschsein“ heißt, gibt es realpolitisch eine Tendenz zum Autoritären. Etwa in China. „Hier kommt zusammen, was Linke immer am meisten gehasst haben: ein autoritärer Staat und ein enthemmter Kapitalismus. Ich weiß nicht, wie man das nennen soll, ob autoritärer Kapitalismus oder anders – aber ich frage mich, sehr pessimistisch, ob das heute nicht ein allgemeiner Trend ist?“

„Liberale sind schuld an Populismus“

Von China bis Europa, von den USA bis Indien scheinen patriotisch-autoritäre Regierungen auf dem Vormarsch. Wenn sich Liberale heute vor einem neuen Faschismus fürchten, wird Zizek zornig. Denn der wachsende Populismus sei Ergebnis ihrer Politik. „Ist es nicht eindeutig, dass das liberale Establishment den Platz geöffnet hat für den neuen Populismus? Trump ist eine Wirkung. Wenn man Leute wie ihn bekämpfen will, muss man die Ursachen ihres Erfolgs bekämpfen!“

Und das geht nicht mit mehr Liberalismus, sondern nur mit mehr Sozialismus, ist sich Zizek sicher. „Die einzig wirklich wichtige Frage ist die Fukuyama-Frage: Leben wir mit liberaler Demokratie und Kapitalismus tatsächlich im bestmöglichen System? Oder sind wir mit Antagonismen konfrontiert, die so ernst sind, dass wir sie nicht innerhalb des Systems werden lösen können?“ Zizek bejaht seine eigene Frage und nennt die Klimakrise als Beispiel. „Unsere Gemeingüter sind in Gefahr. Ich weiß nicht, wie die Veränderungen aussehen werden, sicher nicht wie im alten Kommunismus mit seinem Zentralkomitee. Aber wir brauchen nicht nur lokale Demokratien, sondern kommunale Handlungen auf internationaler Ebene.“

Wenn heute etwa Milliarden Menschen dickleibig sind und andererseits Millionen verhungern, „so ist das verrückt. Es braucht da eine radikale Restrukturierung, die man nicht nur über Märkte hinbekommt, sondern irgendwie transnational und – nicht im alten kommunistischen Sinne - auf kollektiver Ebene.“

Lenin und Lubitsch

Seit vielen Jahren flirtet Zizek, fast ein Alleinstellungsmerkmal unter Intellektuellen, mit Wladimir Iljitsch Lenin. Wobei er nicht naiv glaubt, dass die Geschichte anders verlaufen wäre, hätte Lenin länger gelebt und statt Josef Stalin wäre ihm Leo Trotzki nachgefolgt. „Auch dann wäre die Sowjetunion keine blühende Demokratie geworden.“ Dennoch liege im Leninismus ein unterschätzter Wert für die Gegenwart. Und zwar als etwas, das für eine starke nationale und internationale Ordnung steht.

„Zugleich brauchen wir heute aber auch so etwas wie Spaßmacher, die die Macht kontrollieren“, sagt Zizek. Wie er in seinem aktuellen Buch ausführt, denkt er dabei an Personen wie den deutsch-amerikanischen Regisseur Ernst Lubitsch. Zizek ist ein großer Fan seiner subtilen Komödien und schlägt das Duo Lenin-Lubitsch als ideale Regierungsform für heute vor. Der eine steht für Ordnung und Prinzipientreue, der andere für Ironie, Subversion – und somit für Kontrolle der Macht.

Seit zehn Jahren nicht an der Uni

Auch wenn Zizek an Lubitsch für diese Rolle denkt, wäre er selbst eigentlich die Idealbesetzung. Von seinen Witzen wird nichts und niemand verschont – schon gar nicht er selbst. Wenn er von seinem Lebensweg spricht (Grundaussage: „Ich hatte einfach viel Glück“), ist das gepickt mit Selbstironie.

So ist er etwa bis heute Angestellter der Universität Ljubljana, war aber seit zehn Jahren nicht mehr dort. „Das ist keine Übertreibung!“ Mit seiner Uni verbinde ihn eine „Vernunftehe, wir können uns beide nicht leiden“. Er bringe der Uni aber Reputation und Forschungsgelder, deshalb habe er eine Art Assistenten. „Er schreibt Forschungsanträge etc. für mich und fälscht dabei meine Unterschrift. Einmal – und das ist kein Scherz – haben wir uns zufällig irgendwo getroffen, und ich habe einmal selbst unterschrieben. Postwendend ist das Schreiben zurückgekommen, weil sie dachten, dass irgendjemand meine Unterschrift gefälscht hat“, erzählt Zizek und bricht wieder einmal in schallendes Gelächter aus.

Das Ärgernis, älter zu werden:

„Älterwerden ist schrecklich“

Eher weniger zum Lachen findet Zizek den Anlass für unser Treffen: Seinen 70. Geburtstag werde er „absolut und so wie immer ignorieren". Älterwerden sei nämlich schrecklich. Man werde nicht einfach krank, sondern die Krankheiten greifen mehrfach an. „Vom Herzen über Diabetes bis zur Prostata. Es ist wie bei Blasen. Eine zerplatzt, und schon entsteht eine andere.“

Beim Interview scheint Zizek dennoch voll fit. Er sprüht, schwitzt und gestikuliert wie eh und je. Weitere Buchprojekte stehen bevor, er lebt, um zu philosophieren, er philosophiert, um zu leben. Und dennoch hat sich unter die starken Thesen von Zizek eine gewisse Ratlosigkeit gemischt. „Wo stehen wir heute? Haben wir irgendeine Ahnung? Selbst die historischen Nazis und Kommunisten wussten besser, was gerade geschieht, als wir heute.“

Zizek dreht deshalb die berühmte These von Karl Marx um, wonach die Philosophen die Welt bisher nur verschieden interpretiert hätten, und es nun gelte, sie zu verändern. Für ständige Veränderung sorgt ohnehin schon der Kapitalismus. Gefragt seien deshalb wieder die Deutungen. „Im 20. Jahrhundert haben wir zu viel versucht, die Welt zu verändern. Jetzt ist vielleicht die Zeit, sie wieder zu interpretieren. Ich glaube noch immer an die Philosophie!“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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