Erst komplexe Gesellschaften erfanden Götter

Warum haben Menschen angefangen, an Götter zu glauben? Laut einer Studie, in der historische Daten aus 10.000 Jahren ausgewertet wurden, war der Glaube an moralisierende Götter notwendig, um komplexe Gesellschaften zusammenzuhalten.

Eine Hypothese zur Entstehung von Religionen lautet, dass der Glaube an eine überirdische Autorität die Kooperation zwischen Fremden in großen Gesellschaften ermöglicht hat. Denn je größer und komplexer eine Gesellschaft wird, umso schwieriger ist es, das Zusammenleben zu regeln. In den letzten Jahrtausenden haben sich Religionen entwickelt, in denen überirdische Mächte soziales Verhalten belohnen und irdisches Fehlverhalten ahnden – man denke an die in vielen Religionen präsenten Gebote à la „Du sollst nicht stehlen“. Und in dieser Zeit sind auch die menschlichen Gesellschaften komplexer geworden.

Was vorher da war, die soziale Komplexität oder der Glaube an Gottheiten, darüber gibt es aber unterschiedliche Ansichten. Ein internationales Forscherteam, darunter auch Peter Turchin vom „Complexity Science Hub“ in Wien, hat die Frage nun empirisch überprüft. Für eine in der Fachzeitschrift „Nature“ publizierte Studie haben die Wissenschaftler historische Daten zu 414 Gesellschaften aus 30 Regionen auf der ganzen Welt untersucht, die sich in den vergangenen 10.000 Jahren gebildet haben - von Amerika über Ghana bis China oder Papua Neuguinea.

Glaube als Produkt komplexer Gesellschaften

Ihre Analyse zeigt: Moralisierende, „große“ Gottheiten tauchen in der globalen Geschichte erst dann auf, wenn die Gesellschaft ein gewisses Maß an sozialer Komplexität erreicht hat. Und zwar weltweit, ganz gleich ob es sich um römische Göttinnen, den allmächtigen Gott im Christentum bzw. Islam handelt oder um überirdische Lenkmechanismen wie das Karma im Buddhismus. All diese Vorstellungen entstanden fast immer erst, wenn die Gesellschaften mehr als eine Million Menschen zählten, so die Studienautoren.

Der Glaube an diese überirdischen Autoritäten ist demnach keine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Menschen kooperieren und komplexe Gesellschaften bilden. Vielmehr hilft er dabei, sie ab einer gewissen Größe zusammenzuhalten und Imperien, in dem viele Ethnien zusammenleben, auszudehnen.

Rituale früher als Gottheiten

Ein möglicher Faktor für das Entstehen komplexer Gesellschaften seien hingegen rituelle Praktiken, so die Studie. Standardisierte Rituale, die durch Wiederholung und Zwang seitens religiöser Autoritäten wie etwa Priestern oder Schamanen durchgesetzt wurden, hätten die gemeinsame Identität und damit die Einheit einer großen Bevölkerung ermöglicht – und diese entstanden im Schnitt etwa 1.000 Jahre vor dem Glauben an moralisierende Götter. Das lege nahe, dass eine gemeinsame Identität für die Kooperation wichtiger ist, als eine religiöse Überzeugung, so Turchin in einer Aussendung. Für die Entwicklung komplexer Gesellschaften könnte es also wichtiger gewesen sein, wie die Menschen verehrten, als wen sie verehrten, so die Autoren.

Die Daten für die Studie stammen aus der weltweiten Datenbank Seshat, die Turchin und Kollegen 2011 angelegt haben. Diese frei zugängliche „Global History Databank“ sammelt unter anderem Erkenntnisse aus Geschichtswissenschaft, Archäologie, Anthropologie und Sozialwissenschaft. Weil sie für die aktuelle Studie Daten aus diversen Gesellschaften von überall auf der Welt untersucht haben, seien ihre Aussagen über die Entwicklung von Religion auch stärker generalisierbar als bisher, so die Forscher.

Julia Geistberger, science.ORF.at/Material: APA

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