Die Kunst der Anschaulichkeit

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Vermittlung von Wissen durch Bilder weltweit rasant zu. Ein Ausgangspunkt war Wien, wie die Kunsthistorikerin Katharina Steidl in einem Gastbeitrag schreibt.

„’Nicht mehr lesen! Sehen!’ wird das Motto der Erziehungsfragen sein“! lautete das Credo Johannes Molzahns, mit dem er 1928 die Bedeutung der Fotografie und damit auch die Hinwendung zu den neuen bildgebenden Medien propagierte. Immer mehr Informationen, in immer rasanterem Tempo standen den damaligen Zeitgenossen/innen zur Verfügung.

Porträtfoto der Kunsthistorikerin Katharina Steidl

IFK

Über die Autorin

Katharina Steidl ist seit 2017 Postdoc-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und aktuell IFK_Research Fellow. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschichte und Theorie der Fotografie, Geschlechtergeschichte, Wissenschafts- und Materialitätsgeschichte.

Eine erste Möglichkeit, dieser Fülle an Eindrücken zu begegnen, sah man ganz allgemein gesprochen – in Bildern. Nicht mehr nur Text und damit sprachliche Kommunikation sollten zur Informationsübermittlung herangezogen werden, sondern in zunehmendem Maße visualisierende Verfahren. Ihnen sprach man eine unmittelbare Anschaulichkeit in der Vermittlung von Wissen zu, das für alle gleichermaßen schnell verfügbar, einfach zu erfassen und in weiterer Folge einprägsam sei.

Programmatisch ist Molzahns Formulierung aber auch insofern, als sie ein Zeitphänomen des beginnenden 20. Jahrhunderts widerspiegelt, das an unterschiedlichen Orten, sowohl in Europa, als auch in Übersee, Theoretiker/innen über die grundsätzlichen Vor- und Nachteile einer bildbasierten Vermittlung von Wissen nachdenken ließ. Die Beweggründe dafür sind heterogen. Allen gemeinsam ist jedoch eine grundsätzliche Kritik an der Vorherrschaft von Schrift und Sprache.

Vordenker Otto Neurath

Als Initiator und Vordenker einer bildpädagogischen Wende steht der Nationalökonom Otto Neurath, der gemeinsam mit dem Künstler Gerd Arntz die „Wiener Methode der Bildstatistik“ entwickelte. Mit Hilfe piktogrammatischer Zeichen galt ihr Versuch, statistisches Wissen in allgemein verständliche Lehrbilder zu übersetzen.

Dieser visuelle Transformationsprozess hatte zum Ziel, andernfalls schwer verständliche Inhalte für die Arbeiterschaft und andere benachteiligte Gesellschaftsgruppen aufzubereiten und damit zugänglich zu machen. Grundlegend für dieses Demokratisierungsprinzip der Wissensvermittlung ist der durchaus problematische Glaube an eine direkte und unmittelbare Verständlichkeit von Bildern.

Information in konzentrierter Form

Unabhängig von Neuraths Reformen, vermehrten sich Stimmen in den Vereinigten Staaten, die visuelle Lehrmittel, wie etwa Film, Fotografie, Lichtbildvorträge, aber auch Schaubilder in den Unterrichtsplan zu integrieren suchten. Dieses vermehrte Interesse an einer bildzentrierten Pädagogik ging als „Visual Education Movement“ in die Literatur ein. Angelehnt war diese Präferenz bildlicher Instruktionsmittel, so die These, an Frederick Winslow Taylors und Frank & Lillian Gilbreths Studien zur Arbeitswissenschaft im Fabrikwesen.

DuPonts „charting rooms"

Hagley Museum & Library

DuPonts „charting rooms"

Um die Organisation oder den Warenfluss in Wirtschaftsbetrieben zu analysieren, entwickelten jene Unternehmensberater/innen grafische Visualisierungspraktiken wie bspw. Balken- oder Flussdiagramme, die zu mehr Übersicht verhelfen sollten. Auf Schautafeln appliziert, standen diese Visualisierungsformen nicht nur jederzeit zur Verfügung, sondern ließen sich – wie im Falle von DuPonts „charting rooms“ – per Schienensystem zu- und abschwenken (siehe Abbildung oben). Sowohl im Wirtschaftsmanagement als auch im Unterrichtswesen galt der Wunsch nach vermehrter „Effizienz“: Gegenüber einer langwierig zu interpretierenden Daten- oder Textmenge sollten visuell aufbereitete Schautafeln einen schnellen Überblick ermöglichen.

Steigerung der Effizienz im Lernprozess

Diese Überlegungen erfuhren ihre prominente Umsetzung während des Zweiten Weltkrieges in den USA, als es darum ging, Laien für den Kriegsdienst in möglichst kurzer Zeit auszubilden. So wurden Schautafeln mit Diagrammen, Explosionsansichten und bildlichen Anleitungen erstellt, um den Unterricht möglichst anschaulich zu gestalten. Mit der Herstellung dieser visuellen Instruktionsmittel wurde unter anderem die 1942 eigens dafür geschaffene „Training Aids Division“ der „Army Ground Forces“ betraut.

Zu diesem Zwecke wurden Künstler und Künstlerinnen rekrutiert, die anhand von bildgebenden Verfahren komplexe Inhalte in einfache Darstellungen übersetzen sollten. Ausgerichtet wurde diese visuelle Transformationsarbeit an den potenziellen Benutzer/innen der Schaubilder und ihren visuellen Fähigkeiten – heute würde man von einem „user“ bzw. von „usability“ sprechen.

Tafel für den Selbstunterricht,York/London 1947

Fotografie abgedruckt in: William Exton, Audiovisual Aids to Instruction, New York/London 1947

Tafel für den Selbstunterricht,York/London 1947

Besonders augenfällig wird die in Aussicht gestellte Benutzerfreundlichkeit im Falle der „self-teaching units“. Selbsterklärende Schautafeln also, die, wie in der Abbildung ersichtlich, zur eigenständigen Anlernung eines Wissensgegenstandes verhelfen sollten. Nach eingehendem Studium könnten, so die Annahme, komplexere Bilder vermittelt werden. Im Kern ging es also zugleich um eine Schulung des Sehens.

Visuelle Vermittlungsarbeit auch in der Kunst

Dieser pädagogische Visualisierungsschub beeinflusste auch Felder abseits des Militärs. Unter der Regie von Elodie Courter, Direktorin des Department of Travelling Exhibitions, sandte das Museum of Modern Art in New York ab den 1930er Jahren Wanderausstellungen an Schulen in den USA, die grundlegende Themen über moderne Kunst im Format der Schautafel zu vermitteln suchten. Dem Format, aber auch der visuellen Ausgestaltung der Schautafel kam dabei die Funktion zu, einem oftmals kunstfremden Publikum abseits der Metropole New York, Inhalte in leicht verständlicher Weise zugänglich zu machen.

Ob als didaktische Tafel im Ausstellungssetting, als operatives Schaubild im Militär oder als strategisches Analysemedium in der Fabrik – sie alle vereint die Frage, wie Informationen möglichst übersichtlich auf der Bildfläche dargestellt werden können, aber auch der Glaube an ihre unmittelbare Zugänglichkeit. Damit geben sie Einblick in eine frühe Geschichte des Informationsdesign sowie deren zentrale Überlegungen, die bis heute nicht an Aktualität verloren haben.

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