Zeitgeschichte am Smartphone

Wie man die Geschichte von Häusern, Straßen und öffentlichen Orten mithilfe von Apps und digitale Karten erlebbar macht, diskutieren derzeit Experten bei einem Workshop am Wiener Wiesenthal-Institut. Der Zeit des NS-Zeit widmen sich bereits einige europäische Projekte.

Mithilfe digitaler Tools könne man Städte wie ein Museum erleben, sagt Wolfgang Schellenbacher vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Das DÖW-Projekt „Memento Wien“, ein digitaler Stadtplan optimiert für Smartphones und Tablets, zeigt die letzten Wohnadressen von fast 55.000 Jüdinnen und Juden sowie von politischen Opfern des NS-Regimes, die später deportiert und ermordet wurden.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 2.4. um 13:55

Ziel ist es, den Opfern des Nationalsozialismus über diese Karte - nach Möglichkeit verknüpft mit Fotos und Dokumenten - wieder ein Gesicht geben, erklärt Schellenbacher: „Raum verbindet auch verschiedene Opfergruppen. Nutzerinnen und Nutzer sehen beispielsweise in einem Haus in Wien plötzlich drei Opfer des Holocaust und in der Nebenwohnung ein politisches NS-Opfer – das ist etwas, das wir vorher nicht wussten.“

Historiker Schellenbacher präsentiert DÖW-Projekt „Memento Wien“

Sandra Eigner

Historiker Schellenbacher präsentiert DÖW-Projekt „Memento Wien“)

Digitale Stadtpläne, Websites und Apps mit einem ähnlichen Ansatz gibt es auch in Prag, Amsterdam, Berlin und anderen europäischen Städten. Sie richten sich an Bewohnerinnen und Bewohner, die etwas über die Geschichte ihres Hauses oder ihres Viertels erfahren wollen, an Familienangehörige von Holocaust-Opfern und an Schulklassen – so wie der Hamburger „Geschichtomat“, bei dem Schülerinnen und Schüler die jüdische Vergangenheit und Gegenwart ihrer Nachbarschaft erkunden.

Dabei nehmen sie ihre Recherchen auf und schneiden daraus ein Video, das auf der Geschichtomat-Website hochgeladen und dort mit einem Punkt auf einem Online-Stadtplan verknüpft wird – so entsteht Stück für Stück eine digitale Karte Hamburgs zum jüdischen Leben aus der Sicht von Jugendlichen. Nach Abschluss der Projektwoche lande die Arbeit so nicht in einer Mappe, sondern sei einem breiten Publikum zugänglich, erläutert Projektleiterin und Workshop-Teilnehmerin Carmen Smiatacz.

Kein Ersatz für Geschichtsunterricht

Dadurch sei digitale Geschichtsvermittlung sehr nachhaltig, streicht Smiatacz hervor. Die Online-Inhalte könnten wieder in den Unterricht eingebunden oder auch von interessierten Außenstehenden angeklickt werden. Anders bewertet das der Wiener Historiker Schellenbacher: Angesichts des Tempos der technologischen Entwicklung seien die digitalen Tools nicht nachhaltig, einige würden in ein paar Jahren bestimmt nicht mehr so funktionieren wie im Moment und müssten modernisiert werden. Auch deswegen sei eine europaweite Vernetzung wie über den Workshop-Veranstalter „European Holocaust Research Infrastracture“ sinnvoll.

Fest steht für Schellenbacher, dass digitale Geschichtsvermittlungstools einen Zugang zu historischen Materialien ermöglichen, die einer breiten Öffentlichkeit sonst nicht so einfach zur Verfügung stehen würden. Sie könnten aber immer nur ein Hilfsmittel sein und Lehrerinnen und Professoren nicht ersetzen. Carmen Smiatacz vom „Geschichtomat“ sieht sie aber auch als Chance: „Durch das Interesse an digitalen Medien kann man plötzlich ein Interesse für Geschichte wecken.“

Sandra Eigner, ORF-Radios

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