Nicht alle Revolutionäre waren Rhetorikgenies

Die Akteure der Französischen Revolution stellt man sich oft als tatkräftige Männer und glänzende Redner vor. Eine Computeranalyse Tausender Reden zeigt hingegen: Nicht alle Revolutionäre waren begnadete Rhetoriker.

1990 legte sich Gudrun Gersmann ihren ersten PC samt Drucker und 20-Megabyte-Festplatte zu. Diese war damals zwar teuer, aber dafür „die Innovation schlechthin“, erinnert sich Gersmann heute. Hubertus Kohle hielt damals wenig von dieser Anschaffung: „20 Megabyte? Verdammt nochmal, ein ganzes Buch braucht vielleicht ein halbes Megabyte!“

Heute ist Gudrun Gersmann Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Köln. Ihr Mann Hubertus Kohle ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Und seine Empörung über einen Datenträger mit einer Speicherkapazität von 20 MB ist mittlerweile ziemlich in die Jahre gekommen.

Gudrun Gersmann beim Vortrag in Wien

Universität Wien

Gudrun Gersmann beim Vortrag in Wien

Museumsdaten online auswerten

Big Data, also das Sammeln und Auswerten von großen Datenmengen, macht auch vor der Wissenschaft nicht halt. Mittlerweile gibt es selbst in Bereichen, die traditionell von qualitativen Forschungsmethoden geprägt sind, Big-Data-Projekte. Was durch Data Science in den Geisteswissenschaften möglich wird, haben Gudrun Gersmann und Hubertus Kohle vor Kurzem auf Einladung der Universität Wien präsentiert.

Um umfassendes Datenmaterial auswerten zu können, muss man dieses zunächst sammeln. Zum Beispiel, indem man es in großem Stil automatisiert von frei zugänglichen Online-Datenbanken abfragt. Dann können die Daten – etwa Daten von Museumsdatenbanken – analysiert werden. Weil das für Technik-Laien kompliziert sein kann, hat Kohle gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern Museum Analytics (MAX) ins Leben gerufen. MAX ist ein Online-Tool, mit dem Museumsdaten relativ einfach analysiert und visualisiert werden können.

Von der Crowd zur KI

Nicht alle Datensätze sind mit umfassenden Metadaten versehen. Bei einem Bild können das zum Beispiel Schlagworte sein, die das Bild beschreiben. Hier setzt das Projekt ARTigo an: Jeder, der möchte, kann auf der Website Kunstwerke beschreiben, sie also mit Schlagworten versehen. Die von allen Usern meistgenannten Tags bleiben gespeichert. Die spielerische Crowdsourcing-Plattform generiert so Beschreibungsdaten für Kunstwerke. „Da kommen interessante Ergebnisse raus. Und vor allem kommen viele Ergebnisse raus“, sagt Kohle. „Wir haben in zehn Jahren über zehn Millionen Annotationen gefunden.“ Diese Daten kann man nun nutzen, um ähnliche Kunstwerke zu finden.

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichtete auch Digital Leben, 11.4., 16:55 Uhr.

Als ARTigo an den Start ging, waren Künstliche Intelligenzen noch weitgehend Zukunftsmusik. Heute ist das anders, und Kohle will die ermittelten Schlagwörter nun einsetzen, um damit Algorithmen zu trainieren. Schließlich müsse man Künstliche Intelligenzen mit großen Mengen an Trainingsdaten füttern. „Was wir jetzt machen, ist vielleicht auch ein bisschen traurig: Wir arbeiten daran, uns in gewisser Weise selber abzuschaffen.“

Hubertus Kohle beim Vortrag in Wien

Hubertus Kohle

Hubertus Kohle beim Vortrag in Wien

Neue Fragen werden aufgeworfen

Noch führen Datenanalysen in den Geisteswissenschaften meist zu Ergebnissen, die man bereits erwartete, erklärt Kohle. Das läge wahrscheinlich auch daran, dass man erst am Beginn der Arbeit mit Big-Data-Analysen steht und die Daten meist noch unvollständig sind, weil zum Beispiel noch nicht alles Relevante digitalisiert wurde. Je besser und umfassender das Datenmaterial wird, umso interessanter werden auch die Ergebnisse, vermutet Kohle. Auch in Zukunft werde der qualitative Ansatz, die menschliche Intelligenz, wichtig sein. „Aber der quantitative Ansatz kann uns auf die Sprünge helfen“, sagt Kohle. Etwa, indem er neue Fragen aufwirft. Schon jetzt regt das eine oder andere Ergebnis zum Nachdenken an.

Der Google Ngram Viewer ist eine Suchmaschine, die anzeigt, wie häufig und wann – also in welchen Jahren – ein Wort oder eine Phrase in den Büchern, die Google für Google Books gescannt hat, erwähnt wird. Etwa den Begriff „Lithographie“, eine grafische Technik vom Ende des 18. Jahrhunderts, die man gut auf kunsthistorische Ereignisse beziehen könne, so Kohle. Als die Technik erfunden wird, gibt es zum Beispiel auch vermehrt Erwähnungen. In den 1860er-Jahren wird der Begriff allerdings ebenfalls vergleichsweise häufig verwendet. „Und ich sehe, zumindest zunächst Mal, keine direkte Erklärung dafür.“ Das Ganze mag an einem Fehler in den Daten liegen – es könnte aber auch auf einen noch unerkannten Zusammenhang hindeuten.

Sturm auf die Bastille in Paris 1789: Gravur von Pierre Gabriel Berthault und Jean Louis Prieur

ONB

Sturm auf die Bastille in Paris 1789: Gravur von Pierre Gabriel Berthault und Jean Louis Prieur

Die Französische Revolution im Licht von Big Data

Bisher Unbekanntes brachte für Gudrun Gersmann ein aktuelles US-Forschungsprojekt hervor. Datenwissenschaftler sahen sich hier die Rhetorik der Französischen Revolution an. Dazu haben sie 40.000 transkribierte und digital verfügbare Reden mit Hilfe von Machine Learning analysiert. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass es neben brillanten Rhetorikern auch einen Typ Politiker gab, der sich nicht viel um seinen Sprachstil kümmerte, sagt Gersmann. „Dass ein guter Revolutionspolitiker immer auch ein blendender Rhetoriker sein will, ist nicht der Fall.“

Erstaunlich sind laut Gersmann auch die Ergebnisse einer statistischen Auswertung von knapp 300 deutschsprachigen Zeitungen des späten 18. Jahrhunderts, die im Rahmen einer Masterarbeit durchgeführt wurde. Die Daten hierfür stammen von digiPress, dem Zeitungsportal der Bayerischen Staatsbibliothek. Die Datenanalyse zeige zum Beispiel, dass die Jakobiner damals noch nicht als wichtige revolutionäre Aktionsgruppe erkannt wurden – Journalisten sprachen allgemein von „dem Volk“, das sich revolutionär betätige.

Und auch bei der Wahrnehmung einzelner Akteure gäbe es Unterschiede zwischen damals und heute: Während manche prominente Revolutionäre offenbar überhaupt keine Rolle spielten, wurde über andere, die heute vergessen sind, viel berichtet. „Etwa Anacharsis Cloots, ein niederrheinischer Baron, der nach Paris ging und ein radikaler Revolutionär wurde.“ Über die Frauen der Französischen Revolution wurde damals offenbar wenig in den Zeitungen geschrieben, abgesehen von Marie Antoinette und der polnischen Gräfin Rozalia Lubomirska, „die im Gefängnis als Anti-Royalistin gestorben war und über die man heute kaum Literatur findet“, sagt Gersmann.

KI schießt Lücken

Solche Datenanalysen haben allerdings eine große Schwäche, erklärt Gersmann: Der Computer kann nicht alles richtig erfassen. Ausgeblichene Stellen oder Frakturschrift können oft nur unvollständig als Text erkannt werden. Allerdings: „Grade in dem Bereich gibt es inzwischen Machine-Learning-Ansätze, die nicht nur Frakturschrift erkennen, sondern auch mittelalterliche Handschriften, die wir teilweise als Menschen gar nicht mehr lesen können“, sagt Kohl.

Lukas Plank, Ö1-Wissenschaft

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