Knochen zum Sprechen bringen

Nach dem Bürgerkrieg auf Zypern in den 1960er und 70er Jahren werden bis heute 1.657 Menschen vermisst. Die forensische Anthropologie soll ihren Hinterbliebenen endlich Gewissheit verschaffen.

Tausende Familien auf Zypern und in der zypriotischen Diaspora können nicht mit der Vergangenheit abschließen. Sie wissen nicht, was mit ihren Verwandten, die vor 50 bis 60 Jahren im Zypernkonflikt verschwanden, passiert ist. Wenn Lukas Waltenberger ihnen die Nachricht bringt, dass er etwa ihren Bruder oder Vater identifizieren konnte, ist das für viele eine Erleichterung – endlich haben sie Gewissheit.

„Man bekommt sehr viel Feedback von den Verwandten und hört so aus erster Hand, wie dankbar sie sind, dass man diese Arbeit macht“, berichtet der Österreicher über seinen Einsatz auf der Insel. Er ist forensischer Anthropologe am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In Zypern hat er das Komitee für vermisste Personen (CMP) bei der Identifizierung von Kriegstoten in Massengräbern unterstützt.

Auf der Suche nach Massengräbern

Hinweise dazu, wo sich ein Massengrab befindet, kommen oft von Augenzeugen, die während des Bürgerkrieges verdächtige Aktivitäten beobachtet haben. Doch die Landschaft hat sich seit damals stark verändert: Häuser wurden gebaut, Straßen verlaufen heute anders und manche Gräber wurden nachträglich verlegt, um Spuren zu verwischen.

Suche nach Massengräbern: Ablauf einer Rastergrabung

CMP Zypern

Suche nach Massengräbern: Rastergrabung

Der genaue Standort eines Grabes ist nur mehr schwer nachzuvollziehen. „Da bietet sich eine Technik an, die in Zypern entwickelt wurde, die sogenannte Rastergrabung“, so der Anthropologe. Dabei zieht ein Bagger vorsichtig rasterförmige Rillen im Abstand von einem halben Meter in den Boden. Stößt er auf Hinweise auf ein Grab, wie etwa Knochen oder Kleidungsstücke, stoppt der Bagger und die forensischen Anthropologinnen und Anthropologen beginnen mit ihrer Arbeit.

Ö1-Sendungshinweis:

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in der Sendung Wissen aktuell, 19.4., 13:55 Uhr.

„Das kann man sich so vorstellen, wie man das von den klassischen Archäologen kennt. Mit Pinseln und Feinwerkzeug werden dann die Knochen freigelegt.“ Um zu verhindern, dass Beweismittel mutwillig oder unabsichtlich verfälscht werden, müssen im Vergleich zur Archäologie allerdings viel strengere Standards eingehalten werden, so der Wissenschaftler. Jeder Knochen wird genauestens dokumentiert, zunächst wie er im Grab liegt, dann nach der Entnahme und schließlich beim Verpacken. Anschließend wird die Grabfüllerde penibel durchsiebt, um jeden Knochensplitter und jedes Projektil zu finden. „Jedes noch so kleine Knochenstückchen gehört zu einem Menschen dazu. Schon aus diesem Grund versucht man, das ganze Skelett so vollständig wie möglich zu bergen.“ Besonders Schussverletzungen führen dazu, dass Knochen stark zersplittern. Um die Verletzung genau rekonstruieren zu können, ist jeder Splitter hilfreich.

Sterbealter feststellen

Die Arbeit der Forscher kann dabei helfen, Kriegsverbrechen aufzuklären. Aber auch bei Naturkatastrophen und Flugzeugabstürzen lassen sich auf diese Weise Opfer identifizieren. Auf Zypern ist das Mandat des CMP ein rein humanitäres. Es soll den Hinterbliebenen Gewissheit geben. Auch DNA-Tests helfen bei der Identifizierung. Damit könne aber oft nur eine Verwandtschaft festgestellt werden. „Auf Zypern haben wir das oft gehabt, dass im Konflikt ein Vater mit zwei Söhnen involviert war und nicht mehr nach Hause gekommen ist. Hier braucht man dann die Anthropologie, um die drei Individuen zu trennen.“

Militärische Sperrzone auf Zypern

Iakovos Hatzistavrou / AFP

Militärische Sperrzone auf Zypern

Dabei kann das genaue Sterbealter einer Person helfen. Bei Skeletten von Kindern- und Jugendlichen verraten die Wachstumsfugen das Alter. „Das sind knorpelige Zonen innerhalb von Langknochen; nur in denen kann Wachstum stattfinden und wenn sie erwachsen werden, verknöchern die komplett und sind nicht mehr zu sehen.“ Unterschiedliche Knochen verknöchern unterschiedlich schnell. Die Wachstumsfugen des Schlüsselbeins etwa, schließen sich erst mit über 20 Jahren.

Das Alter von Erwachsenen kann anhand der Gelenksabnutzung festgestellt werden. Die Wachstumsfuge, die die beiden Beckenhälften miteinander verbindet, ist bei Erwachsenen flach, bei Kindern und Jugendlichen ist sie noch stark gerillt. Ab einem Alter von 50 Jahren wird es schwieriger, das genaue Sterbealter festzustellen. Der forensische Anthropologe arbeitet deshalb zusätzlich mit den Zähnen der Verstorbenen. „Unsere Zahnkrone verändert sich nach ihrem Entstehen in der Kindheit nicht mehr, aber der Zahnzement darunter lagert sich ringförmig ab. Das kann man sich wie die Jahresringe von einem Baum feststellen“, so Waltenberger.

Gewissheit verschaffen

Die Arbeit mit den Überresten von Menschen, die gewaltsam zu Tode kamen, ist nicht immer einfach. Lukas Waltenberger erinnert sich noch genau an die ersten Knochen, die er auf Zypern untersucht hat. „In einem ersten Schritt wird einmal das Skelett gewaschen. Und dann habe ich da in einem Sackerl einen Schuh gehabt und in diesem Schuh steckte eine Socke und in dieser Socke steckte ein skelettierter, menschlicher Fuß. Da habe ich auch zu schlucken begonnen und man überlegt, was mit dieser Person passiert ist.“ Für die Hinterbliebenen sei die Antwort auf diese Frage und damit die forensische Anthropologie wichtig, um mit dem Erlebten abschließen zu können.

Das forensisch anthropologische Labor

Lukas Waltenberger

Das forensisch anthropologische Labor

In den USA und Großbritannien sei dieser Wissenschaftszweig schon lange etabliert. Forensische Anthropologinnen und Anthropologen arbeiten intensiv mit der Polizei zusammen, um etwa bei Leichenfunden möglichst viele Informationen über eine Person zu sammeln und Verbrechen aufzuklären. „Kaum ein Gerichtsmediziner weiß, wie man ein Grab richtig öffnet, ohne Beweismaterial zu zerstören, denn jede einzelne Verfärbung im Boden sagt etwas über den Hergang aus“, sagt der Forscher. In Österreich sei dieser Fachbereich allerdings noch weitgehend unbekannt.

Im Moment untersucht Waltenberger, wie sich Schwangerschaft und Geburt auf das knöcherne Becken auswirken. Sogenannte „knöcherne Geburtsmerkmale“ könnten in Zukunft ebenfalls bei der Identifikation von Verstorbenen helfen. „Auch für die Archäologie wäre das sehr wichtig, um mehr über Schwangerschaft und Geburt in vergangenen Kulturen herauszufinden.“

Lena Hallwirth, Ö1-Wissenschaft

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