Was Forscher in Gesichtszügen lesen

Biologisch betrachtet ist der Mensch ein Primat. Doch im menschlichen Gesicht ist vom urzeitlichen Erbe nur mehr wenig zu erkennen. Der Anthropologe Gerhard Weber weiß, warum wir keine Überaugenwülste besitzen - und warum unser Kiefer so winzig ist.

science.ORF.at: Herr Weber, wenn Sie das Gesicht von Homo sapiens mit jenem der Menschenaffen vergleichen: Haben wir noch ein typisches Primatengesicht?

Gerhard Weber: Das haben wir nicht – mit „wir“ meine ich den modernen Menschen, wie es ihn seit etwa 300.000 Jahren gibt. Unser Gehirn ist sehr groß, das Gesicht wiederum außergewöhnlich klein und vertikal gerade orientiert. Schimpansen oder Gorillas besitzen eine Schnauze, die weit aus dem Gesicht hervorspringt. Und sie haben ein viel größeres Gebiss, auffallend sind vor allem die Eckzähne. Wir haben diese natürliche Bewaffnung vollkommen verloren. Das wird wohl seinen Grund haben: Wir haben für die Verteidigung eben andere Verfahren entwickelt. Und wir müssen offensichtlich viel weniger kauen, als es noch unsere Vorfahren mussten. Dadurch sind Kiefer, Kiefermuskeln und Zähne in den letzten zwei bis drei Millionen Jahren deutlich kleiner geworden. Und in den letzten 300.000 Jahren noch einmal.

Anthropologe Gerhard Weber mit menschlichem Schädel

privat

Zur Person

Gerhard Weber ist Professor für evolutionäre Anthropologie an der Universität Wien und leitet ebenda die Forschungsgruppe Virtual Anthropology.

Der Neandertaler hatte sogar ein noch größeres Gehirn als wir. Wie sah dessen Gesicht aus, ähnlich wie unseres?

Nein, das Gesicht des Neandertalers ist um die Nasenregion weit vorspringend. Die Nasenöffnungen sind im Vergleich zu uns riesig. Er hatte auch prominentere Knochenbögen über den Augen. Und was den Kiefer angeht: Wir kennen alle diese Probleme mit Weisheitszähnen in industrialisierten Gesellschaften, viele Menschen haben dafür einfach keinen Platz im Kiefer, die Zähne müssen entfernt werden, es sind Zahnregulierungen notwendig und dergleichen mehr. Der Neandertaler hatte hingegen einen so massiven Kiefer, dass dort noch ein Extrazahn Platz gehabt hätte.

Der Neandertaler hat sich anders ernährt als der moderne Mensch?

Einerseits das, andererseits sind das wohl auch Anpassungen an die Kälte. Neandertaler wurden bisher nur in Europa und Asien gefunden. Die Knochenfunde stammen aus einer Zeit, als es in Europa sehr kalt war. Die großen Nasenhöhlen dienten vermutlich dem Vorwärmen der Atemluft. Im Gegensatz dazu stammt der moderne Mensch aus Afrika, das belegen mittlerweile auch viele genetische Untersuchungen. So gesehen ist es nicht überraschend, dass wir diese Kälteanpassungen nicht besitzen. Interessanterweise hat der moderne Mensch Europa schon vor 50.000 Jahren erobert, also noch während der Eiszeit - vermutlich hatte er Technologien zur Verfügung, die solche Anpassungen nicht mehr notwendig machten.

Links ein moderner Mensch mit Bart, rechts die Illustration eines Neandertalers, dazwischen eine DNA-Helix

Michael Smeitzer, Vanderbilt University

Moderner Mensch vs. Neandertaler

Zu den vorhin erwähnten Überaugenwülsten: Wozu dienten diese Knochenbögen eigentlich?

Diese Frage beschäftigt die Wissenschaft schon seit Jahrzehnten. Früher dachte man, das ist eine Verstärkungsstruktur, die Kräfte beim Kauen ableitet. Doch Computersimulationen bestätigen diese Vermutung nicht. Rein biomechanisch könnte man diese Struktur auch weglassen. Die Überaugenbögen haben wohl etwas mit dem Verhältnis von Gehirn und Gesicht zu tun. Wenn Sie einen Schimpansen anschauen, der hat ein relativ kleines Gehirn und ein großes Gesicht. Bei uns ist es umgekehrt – im Laufe der Evolution hat sich das Gesicht unter den Gehirnschädel geschoben. Und dazwischen gab es eine Phase, wo zwischen diesen beiden Strukturen eine knöcherne Überleitung notwendig war, man kann dazwischen ja keinen Spalt lassen. Und irgendwann, nämlich als das Gesicht vollständig unter das Gehirn gerückt war, war sie obsolet. Vorstellbar wäre auch, dass die Überaugenwülste auch etwas mit Dominanzverhalten zu tun hatten. Aber das ist Spekulation, wir können unsere Vorfahren wie den Homo heidelbergensis oder den Homo erectus leider nicht beobachten.

Forscher um den Biologen Rodrigo Lacruz stellen nun in einer Studie die These auf: Es war vor allem die Mimik, die das menschliche Gesicht geformt hat. Und diesen Faktor habe die Wissenschaft bisher übersehen - ein blinder Fleck der Anthropologie?

Zur Studie

„The evolutionary history of the human face“, Nature Ecology & Evolution (15.4.2019).

So würde ich das nicht sagen, diese Frage ist mit Fossilien einfach viel schwerer in den Griff zu kriegen. Wenn Sie etwa wissen wollen, was frühe Menschen gegessen haben, dann können Sie aus dem Zahnstein, aus Spurenelementen und den Kauflächen der Zähne Rückschlüsse ziehen. Man kennt auch die Werkzeuge und Beutetiere, hier gibt es Fakten. Beim Klima geht das auch, wir haben Klimadaten aus Bohrkernen und die Fossilien von Tieren und Pflanzen aus dieser Zeit. All diese Befunde können wir mit dem Gesichtsskelett in Verbindung bringen. Was die Mimik angeht, können wir hingegen nur mutmaßen. Wir wissen nicht, wie die Mimik eines Homo heidelbergensis ausgesehen hat und wie diese Menschen miteinander umgegangen sind. Natürlich ist es denkbar, dass damals als hübscher empfundene Gesichter einen Einfluss auf die Partnerwahl hatten.

„Hübsch“ hieße: ein sprechendes Gesicht?

Das wäre eine Idee. Andererseits: Wenn mein Gesicht zu sprechend ist und Sie immer klar darüber im Bild sind, was ich vorhabe – dann habe ich eigentlich verloren, oder? Es ist schwer, hier mit Fakten aufzuwarten, wir haben von unseren Vorfahren keinen einzigen fossilen Beleg über die Weichteile des Gesichts.

Schädelknochen von Ardipithecus bis Homo sapiens im Vergleich

Rodrigo Lacruz

Ardipithecus bis Homo sapiens: Schädelknochen im Vergleich

Sie finden die Argumentation von Lacruz und seinem Team nicht überzeugend?

Unser Gesicht ist sicher ein Kommunikationsorgan, das ist es ja auch bei anderen Primaten. Die Frage ist nur: Wo genau greift die Selektion an? Und die brauchen wir für die Evolution. Bei Nahrung und Kauapparat oder Klima und Nase ist die Antwort für mich viel klarer.

Welche Gesichtsteile wurden im Lauf der Evolution in den Dienst der Kommunikation gestellt?

Das können nur die Gesichtsmuskulatur, Mund und Augen sein. Die Grundemotionen werden in früheren Zeiten schon ähnlich gewesen sein. Man wird schon gemerkt haben, dass Herr Heidelbergensis sauer ist oder dass sich Frau Heidelbergensis freut. Aber ob die Differenzierung der Mimik so einen Vorteil bedeutete, dass sich das auch in der Zahl der Nachkommen niederschlug – das kann man meiner Ansicht nach auch bezweifeln.

Können eigentlich Schimpansen weinen?

Sie haben natürlich Tränenflüssigkeit, das gibt es sogar bei Reptilien, weil die Augen benetzt werden müssen. Aus emotionalen Gründen pressen Schimpansen die Tränendrüsen allerdings nicht aus. Was freilich nicht bedeutet, dass sie nicht traurig sein können.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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