Wirtschaftskrisen physikalisch betrachtet

Wie sich wirtschaftlichen Schocks und Finanzkrisen auswirken, untersuchen Wiener Forscher mit einem Ansatz aus der Physik. Er zeigt, wie sich „Schockwellen“ in verschiedenen Ländern und Wirtschaftssparten ausbreiten und dass sie sehr lange andauern können.

In der Volkswirtschaft tue man sich schwer mit Analysen der Entwicklung des Wirtschaftssystems, wenn es in Krisenzeiten aus dem Ruder läuft, heißt es in einer Aussendung des Complexity Science Hub Vienna (CSH). Den Komplexitätsforschern Peter Klimek, Sebastian Poledna und Stefan Thurner geht es in ihrer Arbeit vor allem darum zu verstehen, wie verschiedene Bereiche der Wirtschaft, die zuerst im Gleichgewicht waren, auf Schocks reagieren. Daraus lässt sich ablesen, wie widerstandsfähig (resilient) diese Systeme sind - eine Frage, mit der sich die Wirtschaftsforschung intensiv beschäftigt.

Dafür wählten sie einen Ansatz aus der Physik: Die Lineare Widerstandstheorie beschäftigt sich damit, wie etwa magnetische Materialien reagieren, wenn sie von einem starken externen Magnetfeld beeinflusst werden. Es stellte sich heraus, dass sich diese Herangehensweise auch auf die Frage der Krisenanfälligkeit der Wirtschaft anwenden lässt. Anhand von bereits vorhandenen Wirtschafts- und Handelsdaten, die die ökonomischen Verflechtungen und Abhängigkeiten in den Jahren 2000 bis 2014 aus insgesamt 56 Industriesektoren in 43 Ländern abbilden, haben Klimek und Co ihre neue Methode durchgespielt.

Lange Dauer

Dabei zeigte sich, dass „Schocks nicht einfach verpuffen, die Schockwellen laufen durch das ganze System und folgen dabei allen wechselseitigen Verbindungen“, so Klimek. Es zeigte sich, dass es in der Regel zwischen sechs und zehn Jahren dauert, bis verschiedene Wirtschaftssektoren sie tatsächlich verdaut haben. Während sich etwa viele Experten nach der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise wunderten, warum manche Länder und Wirtschaftssektoren sehr lange brauchten, um aus der Krise herauszukommen, ergaben sich aus den Berechnungen mit der neuen Methode sehr genau jene Muster, die tatsächlich beobachtet wurden, heißt es.

Auch die ersten möglichen Auswirkungen des Handelsstreits zwischen den USA und Europa, der im vorigen Sommer höhere US-Zölle auf Stahl und Aluminium mit sich brachte, analysierten die Komplexitätsforscher mit ihrem neuen Ansatz: „Interessanterweise erhöht sich der Produktions-Output der meisten EU-Staaten derart, dass die Verluste durch die Zölle teils aufgefangen werden“, so Thurner, der sich erwartet, dass sich nun die Widerstandsfähigkeit von Ländern besser vergleichen lässt. Wie gut ihre Ergebnisse zur Realität passen, wollen die Wissenschaftelr nun anhand kommender Wirtschaftsdaten überprüfen.

Durch eine interaktive Online-Visualisierung (vorläufige Version), mit der sich vorerst die Entwicklung der Abhängigkeiten rund um den transatlantischen Handelsstreit ablesen lassen, öffnen die Forscher den Zugang zu ihrem Ansatz. „Interessierte können alle möglichen Parameter verändern und sehen unmittelbar, wie sich das auf die verschiedenen Länder und Sektoren auswirkt“, so Thurner.

science.ORF.at/APA

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