100 Jahre Rotes Wien

Mit dem Wahlsieg der Wiener Sozialdemokratie vor 100 Jahren hat die Ära des Roten Wien begonnen - eine Mischung aus politischem Pragmatismus und Utopie. Dem Jubiläum widmet sich eine neue Ausstellung, zum Teil mit bisher unbekannten Objekten.

Die Wahlen zum Wiener Gemeinderat im Mai 1919 leiteten die weltweit wohl einzigartige Ära ein. Die Sozialdemokratische Partei erreichte die absolute Mehrheit und begann die Stadt zu regieren. Mit Ausnahme der zwölf Jahre von Austrofaschismus und Nationalsozialismus macht sie das bis heute.

Die Kernzeit des Roten Wien liegt zwischen 1919 und 1934, und ihr widmet sich auch die neue Ausstellung im Wien Museum (ab 30. April). Im umbaubedingten Ausweichquartier MUSA ist vergleichsweise wenig Platz, und deshalb haben sich die Kuratoren – Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler und Elke Wikidal – auf einige Kernthemen konzentriert. Dazu zählen Klassiker wie kommunaler Wohnbau, Fürsorge und Bildung, aber auch Emigration, Frauenpolitik und Kunstverständnis.

Kinderfreibad am Margaretengürtel, ca. 1926

Wien Museum, Fritz Sauer

Kinderfreibad am Margaretengürtel, ca. 1926

Wiederentdeckung in den 80er Jahren

Die Ausstellung hat zahlreiche Vorgänger - die prägendste war wohl "Mit uns zieht die Neue Zeit“, die 1981 in einer Straßenbahn-Remise in Wien Meidling gezeigt wurde. Nicht lange zuvor, erst ab den späten 70er Jahren begann sich die Forschung und damit auch die Museen überhaupt wieder für das Rote Wien zu interessieren. Nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs war die Erinnerung in Wahlplakaten und Festschriften der SPÖ zwar präsent. Der Anstoß für eine wissenschaftliche Beschäftigung kam aber von außen.

„Zentrale Bücher schrieben ab den frühen 80er Jahren Historiker aus den USA, etwa Helmut Gruber, Eve Blau und Anson Rabinbach“, erklärt der Politikwissenschaftler Georg Spitaler. „Sie hatten oft biografische Verbindungen zu Wien, ihre Eltern oder andere Verwandte sind 1934 oder 1938 von dort geflüchtet.“ Über ihre eigene Biografie haben sie ein Interesse an Wien entwickelt und damit die Arbeit österreichischer Forscher und Forscherinnen angestoßen.

100 Jahre Rotes Wien

Vor hundert Jahren am bekamen die Wiener Sozialdemokraten die Mehrheit und sie starteten ein Reformwerk, das als „Rotes Wien“ in die Geschichtsbücher einging.

Zeitgleich begann eine Gruppe um Sigfried Mattl, Wolfgang Maderthaner, Helene Maimann, Alfred Pfoser und andere, sich wieder mit dem Roten Wien zu beschäftigen, und zwar auf sehr kritische Art und Weise. „Sie untersuchten die Vergangenheit im Hinblick auf die Gegenwart, und die war bestimmt von der Ära Kreisky. Ihre Kritik bezog sich auf bestimmte Aspekte, deren Wurzeln sie im Roten Wien sahen: etwa den vorherrschenden Paternalismus oder die Tendenz, dass alles ‚von oben‘ bestimmt wird und mit Zwang verbunden ist“, so Spitaler.

Gaudenzdorfer Gürtel, Turnen im Haydnpark, ca. 1926

Wien Museum, Fritz Sauer

Gaudenzdorfer Gürtel, Turnen im Haydnpark, ca. 1926

Bis heute Vorbild für kommunalen Wohnbau

Rund 40 Jahre später hat sich die Perspektive ein wenig verschoben. Heute seien zum Teil andere Fragestellungen hinzugekommen, sagt Spitaler, und das spiegle sich in der Ausstellung. „In den frühen 80er Jahren waren billige WG-Zimmer in einer Altbauwohnung noch verfügbar, da war die Frage nach leistbarem Wohnraum weniger drängend.“ Heute ist sie das wieder. „In Deutschland und anderswo weist man immer wieder auf das Vorbild des Roten Wien in Sachen kommunaler Wohnbau hin“, so die Kuratorin Elke Wikidal.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 29.4., 13:55 Uhr.

Kurator Werner Michael Schwarz nennt das Rote Wien deshalb auch eine „gebaute Utopie, die sich massiv in die Stadt eingeschrieben hat“. Über 400 Bauwerke sind in der Zeit entstanden, viele von ihnen prägen das Stadtbild bis heute. Einige davon, wie das Praterstation, das Kongressbad und der Karl-Marx-Hof, sind deshalb auch Teile der Ausstellung.

Als „begehbare Objekte“ stehen sie Besuchern und Besucherinnen an ausgewählten Tagen offen. Neben diesen Klassikern noch interessanter scheinen weniger bekannte Orte wie das Ledigenheim der Architektin Ella Brix im 19. Bezirk, „eine Art Singlehaus“, so Schwarz, und der Lassallehof im 2. Bezirk, wo die Arbeiterfotografen eingemietet waren.

Karl-Marx-Hof ca. 1930 mit der Skulptur, „Der Sämann“

Wien Museum - Martin Gerlach jun.

Karl-Marx-Hof ca. 1930 mit der Skulptur, „Der Sämann“

Spülküche von Schütte-Lihotzky

Das Rote Wien baute aber nicht nur mächtige Gemeindebauten wie den Karl-Marx-Hof, sondern unterstützte auch die Siedlerbewegung. Und dies obwohl die kleinen Einfamilienhäuser mit ihren Gärten an der Stadtgrenze wie ein Gegensatz schienen zu den „großen Dampfern“, wie Kurator Werner Michael Schwarz die Gemeindebauten nennt.

In diesem Zusammenhang steht auch ein völlig neues Ausstellungsobjekt: das lebensgroße Modell einer Spülküche der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. Noch ehe sie mit der „Frankfurter Küche“ weltberühmt werden sollte, ging sie vom gleichen Prinzip aus („maximale Funktionalität auf engstem Raum“) und baute für die Siedlerhäuser eine Spülküche. Diese sollte im Übergang von Garten zum Wohnraum Platz bieten für alles, was mit Waschen zu tun hat – inklusive einer Badewanne für die Bewohner und Bewohnerinnen.

Die Kuratoren Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler und Elke Wikidal vor dem Modell der Spülküche aus dem Jahr 1922

Lukas Wieselberg, ORF

Die Kuratoren Georg Spitaler, Elke Wikidal und Werner Michael Schwarz (v.l.n.r) vor dem Modell der Spülküche aus dem Jahr 1922

Skulptur aus dem Nachlass von Julius Tandler

Ebenfalls neu an der Ausstellung ist der Versuch, nicht nur Selbstrepräsentationen des Roten Wien zu zeigen. „Wir haben uns auch auf die Suche nach privaten Erinnerungen gemacht“, sagt Georg Spitaler. „Das war aber gar nicht so leicht. Man findet zwar auf jedem zweiten Dachboden irgendwelche Nazi-Devotionalien, aber keine Relikte des Roten Wien. Am ehesten noch in der Emigration.“

Die Skulptur von Hanak

Lukas Wieselberg, ORF

Die Skulptur von Hanak

Der beste Beweis dafür sind Objekte aus dem Nachlass von Julius Tandler. Der Wohlfahrtsstadtrat des Roten Wien ist 1936 in Moskau gestorben, seine Witwe konnte nach Kalifornien fliehen und einiges mitnehmen. Dazu zählt eine Skulptur des Bildhauers Anton Hanak. „Eine Mutter mit zwei Kindern: Diese Skulptur hat Hanak als Symbol der Fürsorge für die Kinderübernahmsstelle im Roten Wien gemacht“, erklärt der Kurator Werner Michael Schwarz. „Tandler hat zu seinem 60. Geburtstag eine Miniversion der Skulptur geschenkt bekommen. Aus seinem Nachlass hat sie uns der Enkel Bill Tandler für die Ausstellung nun zur Verfügung gestellt.“

Laboratorium und Möglichkeitsraum

Auch der Frage nach der Gegenwartsrelevanz des Roten Wien geht die Ausstellung zumindest in Ansätzen nach - ohne pädagogischen Zeigefinger, wie die Kuratoren betonen. „Das Rote Wien zeigt zum einen, wie die Politik mit den schwierigen Problemen der Nachkriegszeit sehr pragmatisch umgegangen ist und konkret Dinge verändert hat. Zum anderen hatte es aber auch den Aspekt eines gesellschaftlichen Laboratoriums und Möglichkeitsraums“, sagt Georg Spitaler. „Das ist heute wieder interessant - in einer Zeit, wo man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass die Dinge nicht so sind, wie sie jetzt sind. Dieses vorwärtsorientierte Denken der 20er Jahre ist sehr erfrischend - und könnte auch der Gegenwart nicht schaden.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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