„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“

Anders als ihr Vater Sigmund, hat Anna Freud Kinder nicht als kleine Erwachsene betrachtet. Sie entwickelte eine speziell auf Kleinkinder zugeschnittene Form der Psychoanalyse. Diese hat weltweit ihre Spuren hinterlassen - auch in Wien.

Der Wiener Jackson-Kindergarten war der erste Ort, an dem Anna Freud die Entwicklung von Kleinkindern studierte. Sie gründete die experimentelle Kinderkrippe 1937. Bereits ein Jahr später musste sie Österreich verlassen. Nach der Verhaftung durch die Gestapo und einem tagelangen Verhör gelingt es ihr und dem Vater nach London zu fliehen. Die vier Schwestern von Sigmund Freud, die in Wien zurückblieben, wurden in Konzentrationslagern ermordet.

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Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen Aktuell, am 10.5., 13.55 Uhr.

Hilfe für traumatisierte Kinder

Ihre psychoanalytische Theorie sollte Jahre später auf diesen Beobachtungen aufbauen, sagt die Psychoanalytikerin Inge-Martine Pretorius, Leiterin des Eltern-Kleinkind-Programms am Anna Freud Centre in London. „Sie betrachtete Kinder nicht als kleine Erwachsene wie ihr Vater, sondern als abhängige Wesen mit einer unreifen Psyche, die eine andere Form von Psychoanalyse brauchen“, so Pretorius.

Anna Freud (zweite von rechts) mit ihrem Hund Lun und Freundinnen in London 1938

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Anna Freud (2. von rechts) mit ihrem Hund Lun und Freundinnen in London 1938

Anna Freud entwickelte in London eine Mischung aus Entwicklungstherapie und klassischer psychoanalytischer Therapie bei neurotischen Störungen. Dort gründete sie 1940 auch sogenannte Kinderkriegsheime, in denen geflüchtete Kinder oder Kinder, die ihr Zuhause im Krieg verloren hatten, unterkommen konnten und betreut wurden.

Unterstützung für Eltern

Fünf Jahre lang führte Anna Freud die Kinderkriegsheime, in denen sie viel über Entwicklungsschwierigkeiten bei Kindern lernte, etwa über die Folgen von Kriegstraumata und Gewalt oder einer Trennung von Eltern und Kind. Die Eltern der Kinder habe sie schon damals so weit wie möglich in den therapeutischen Prozess einbezogen bzw. in Erziehungsfragen unterstützt, sagt Pretorius.

Anna Freud 1957

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Anna Freud 1957

Eine Strategie, die diese Schule der Psychotherapie bis heute verfolgt. „Anna Freud sagte, da das Kind so abhängig von den Eltern ist, muss man auch mit den Eltern arbeiten“, so Pretorius. Das werde bis heute so gehandhabt im Anna Freud Centre in London. Pretorius selbst arbeitet etwa mit Kleinkindern, die bis drei Jahre alt sind, und deren Eltern. Kleine Patienten, die sich nicht über Sprache ausdrücken können, dafür aber über körperliche Aktionen.

Erziehungshilfe auch in Wien

Dieses therapeutische Konzept prägte nicht nur das Institut in London. Auch in Wien eröffnete schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Institut für Erziehungshilfe der Stadt Wien, das 2019 das 70-jährige Bestehen feiert. Der erste Standort des Instituts war ein Gemeindebau - der Karl Marx Hof in Wien. Bis heute betreuen die Psychotherapeutinnen und -therapeuten des Instituts Kinder und deren Eltern, dem Vorbild Anna Freuds folgend.

Marlene Nowotny, Ö1-Wissenschaft

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