Warum die Klimaerwärmung manchmal für Kälte sorgt

Unser Planet heizt sich immer stärker auf – aber nicht überall: In manchen Regionen der Erde wurde es in den letzten Jahren sogar kälter. Ein Widerspruch zur Klimaerwärmung ist das dennoch nicht.

Man erinnere sich an eine Twitter-Botschaft von Donald Trump, veröffentlicht am 29. Jänner dieses Jahres. „Was zum Teufel ist mit der Erderwärmung los? Bitte komm schnell zurück, wir brauchen dich“, spottete der US-Präsident angesichts der arktischen Temperaturen von bis zu minus 30 Grad, die Anfang des Jahres in Chicago und anderen Regionen des Mittleren Westen geherrscht hatten.

Globale Erwärmung, lokale Abkühlung

Die Antwort der Klimaforscher ließ nicht lange auf sich warten. „Winterstürme sind kein Beweis dafür, dass es keine globale Erwärmung gibt“, twitterte die Wetter- und Ozeanografiebehörde NOAA – und konnte ansonsten nur darauf hoffen, dass sich die Leser auch die im Tweet verlinkte Begründung ansehen würden. Denn die ließ sich im Gegensatz zur präsidialen Polemik nicht auf 140 Zeichen einer Twitterbotschaft verkürzen.

Dass global steigende Temperaturen regional zu Kälteeinbrüchen führen können, ist auf den ersten Blick tatsächlich ein Paradox. Ist man gewillt, auch einen genaueren Blick auf das Klimasystem zu werfen, lässt sich der Widerspruch durchaus auflösen. In den USA haben Extremwinter mit den hohen Temperaturen des Oberflächenwassers im Atlantik zu tun. Dadurch gelangt mehr Feuchtigkeit in die Atmosphäre, die Meeres- und Luftströmungen ändern sich. Dieser Umstand wiederum mache Kälteeinbrüche im amerikanischen Mittelwesten wahrscheinlicher, schreibt die NOAA. Dies freilich ohne vorzugeben, dass der statistische Zusammenhang restlos verstanden sei. "Was die physischen Ursachen angeht, ist unser Wissen immer noch gering“, heißt es in den NOAA-Papier.

Und das ist gut so: Wenn eine Behörde auf bestehende Wissenslücken hinweist, dann ist das wohl ein Zeichen dafür, dass man nicht gewillt ist, sich allzu einfacher Botschaften zu bedienen, auch wenn Klimawandelskeptiker genau das tun. So geht eben Wissenschaft. Offene Fragen gehören zum Geschäft.

Grönland-Gletscher gibt Rätsel auf

Ein paradoxer Befund beschäftigt in jüngster Zeit auch die Gletscherforschung. Global betrachtet ist der Trend klar, die weltweiten Eisflächen an Land haben seit 1961 rund 10.000 Milliarden Tonnen an Substanz eingebüßt. Allein Grönland verliert pro Jahr 250 Kubikkilometer Gletschereis – „das entspricht etwa einer zehn Meter dicken Eisschicht von der Größe der gesamten Lombardei“, sagt Tommaso Parrinello, der Chef der CryoSat-Mission der ESA. Die Folge: Der Meeresspiegel steigt. Der italienische Astronom und Umweltforscher rechnet für die zweite Hälfte des Jahrhunderts mit einer regelrechten Völkerwanderung in Küstengebieten. „In 80 Jahren müssen sich rund eine Milliarde Menschen eine neue Heimat suchen. Die Kosten werden enorm sein.“

Allerdings haben die Wissenschaftler auch einen Gletscher ausgemacht, der völlig überraschend aus der Reihe tanzt. Jakobshavn Isbræ an der Westküste Grönlands gab 20 Jahre lang sein Eis mit Rekordtempo an die umliegenden Gewässer ab. Seit 2013 scheint sich der Verlust abzuschwächen, an manchen Stellen wird der Gletscher sogar wieder dicker - offenbar deshalb, weil der Ozean in dieser Region immer kälter wird, wie Daten des Erdbeobachtungssatelliten CryoSat-2 zeigen. Warum ist das so? „Wir wissen es nicht genau“, sagt Parrinello. „Eine wahrscheinliche Erklärung ist: Das Schmelzen des arktischen Eises hat die Meeresströmungen verändert.“

Modelle der Zukunft: Die Erde als System

Das Beispiel Jakobshavn weist auf eine Grundsatzfrage der Klimaforschung hin. Die Atmosphäre, die Ozeane und die Gletscher sind bereits gut verstanden und können durch Modelle auch ziemlich akkurat beschrieben werden. Offen bleibt, wie diese Teilsysteme aufeinander Einfluss nehmen, wie sie sich gegenseitig steuern und langfristig verändern. Die Erde als Gesamtsystem zu verstehen – das ist denn auch das große Ziel des Erdbeobachtungsprogramms der ESA. 15 Satelliten hat die Europäische Weltraumagentur derzeit im All positioniert. In den nächsten Jahren sollen 25 weitere folgen, um das Bild zu komplettieren.

Satellitenbild: Jakobshavn-Gletscher auf Grönland

Copernicus Sentinel / ESA

Jakobshavn-Gletscher auf Grönland

Wenn ihm ein wissenschaftliches Orakel die Antwort auf eine Frage gewähren würde, erzählt Parrinello im Gespräch mit dem ORF, er würde wohl diese stellen: „Wie beeinflusst das geschmolzene Polareis die Ozeane? Und wie das Klima? Wir sehen Tendenzen, aber wir wissen noch nicht, wie weit das gehen wird.“ Der Effekt wird jedenfalls nicht nur lokal sein, prognostiziert der Leiter der CryoSat-Mission. Das Polareis werde langfristig auch die großen Meeresströmungen beeinflussen und könnte somit zu einer globalen Neuordnung der Temperaturverhältnisse führen.

Wetterküche wandert nach Norden

Dass der Golfstrom, dem Europa bekanntlich ein relativ mildes Klima verdankt, in den nächsten Jahrzehnten abreißen könnte, müsse man freilich nicht befürchten, betont Michael Hofstätter von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Wien. „So schnell wird der Golfstrom nicht in die Knie gehen, das ist eine sehr träge und stabile Meeresströmung.“

Bereits kurzfristig zu spüren ist der Klimawandel indes in der atlantischen Wetterküche. Diese verschiebt sich durch die eisfreie Nordpolarregion weiter nach Norden, die europäischen Winter beginnen später, die Sommer werden wärmer. Insgesamt nehme die ausgleichende Wirkung des Atlantiks ab, diagnostiziert Hofstätter mit Blick auf die meteorologischen Aufzeichnungen der vergangenen Jahrzehnte.

Extreme Hitzesommer, wie sie Österreich in den Jahren 2015 und 2018 erlebt hat, könnten demnach Vorboten der neuen Normalität sein. Ob das wirklich zutrifft, werden die Wissenschaftler der ZAMG erst in Zukunft sagen können. Definitionsgemäß in 30 Jahren: Das nämlich ist laut der Weltorganisation für Meteorologie jene Grenze, ab der man nicht mehr von Wetter, sondern von Klima spricht.

Robert Czepel, science.ORF.at

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