Wider den Wachstumszwang

Weniger verschwenden, mehr reparieren und bewusster konsumieren: Lässt sich damit unsere Wirtschaft verändern? Nein, meint der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger – denn die Wirtschaft unterliege einem Wachstumszwang.

Daran ändern auch die bestgemeinten, individuellen Konsumentscheidungen wenig, so der Volkswirt im Interview.

science.ORF.at: Ist ein Kapitalismus ohne Wachstum denkbar?

Mathias Binswanger: Der Kapitalismus, den wir seit der industriellen Revolution haben, funktioniert nur, wenn längerfristig Wachstum stattfindet. Nun dann kann die Mehrheit der Unternehmen Gewinne machen, und Gewinne machen ist zentral im Kapitalismus. Wenn Wachstum aufhört, bleibt die Wirtschaft nicht auf einem bestimmten Niveau stehen, sondern sie gerät in Abwärtsspirale. D.h. wir haben nur die Alternative: wachsen oder schrumpfen.

Porträtfoto von Mathias Binswanger

Fachhochschule Nordwestschweiz

Matthias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Vor Kurzem ist sein Buch „Der Wachstumszwang - Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben“ erschienen.

Teile der Degrowth-Bewegung behaupten aber, dass mit Schrumpfen auch der Wohlstand zu halten sei …

Binswanger: Ja, weil sie den Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaft nicht verstehen. Es ist eine Illusion, in einem Land wie Österreich oder der Schweiz zu sagen: Wir haben ein bestimmtes Niveau erreicht, jetzt ist genug, wir werden auch mit noch mehr Wohlstand nicht mehr glücklicher, also hören wir auf mit dem Wachstum. Wenn das dann tatsächlich ein, zwei Jahre - oder wie in Griechenland sechs Jahre lang – nicht stattfindet, dann führt das schnell zur wirtschaftlichen Katastrophe.

Inwiefern?

Binswanger: Einzelne Unternehmen scheiden aus, damit steigt die Arbeitslosigkeit, die Nachfrage wird auch bei anderen Unternehmen weniger, diese bekommen Probleme, es gibt noch mehr Arbeitslosigkeit, weitere Unternehmen sterben etc. Das ist eine Abwärtsspirale, die man in Griechenland gesehen hat. Zirka ein Drittel aller Unternehmen ist innerhalb von sechs Jahren verschwunden, die Arbeitslosigkeit auf fast 30 Prozent gestiegen, es wird fast nicht mehr investiert in einer solchen Wirtschaft. Das ist das Resultat ohne Wachstum.

Warum aber sprechen Sie von einem „Wachstumszwang“?

Binswanger: Man muss wachsen, damit man nicht in eine Abwärtsspirale gerät. Das gilt auf makroökonomischer Ebene. Einzelne Unternehmen können durchaus untergehen, das ist keine Katastrophe, sondern normal in einer funktionierenden Wirtschaft. Dafür entstehen neue Unternehmen. Aber im Schnitt muss es immer mehr erfolgreiche Unternehmen geben als nicht erfolgreiche, und das ist längerfristig nur bei Wachstum möglich.

Die vorherrschende Ökonomie sieht diesen Zwang nicht …

Binswanger: Nein, für sie ist Wachstum bedürfnisgetrieben. Nach dem Motto: Wenn die Menschen irgendwann mal genug haben, kann das Wachstum aufhören. In meinem Buch zeige ich hingegen auf, dass eine kapitalistische Wirtschaft Wachstum verlangt. Wir können da nicht einfach aussteigen, selbst wenn wir wollen. Auch die Politik präsentiert Wachstum heute im Normalfall als Zwang und nicht mehr als Chance. Man sagt in einem Land wie Österreich: Wir müssen weiterwachsen, sonst fallen wir im Vergleich zu anderen Ländern zurück, werden als Innovationsstandort unattraktiver, das steigert die Arbeitslosigkeit etc.

Was aber ja auch stimmt …

Binswanger: Ja, Wachstum ist wie fast alles im Leben ambivalent. Lange Zeit haben die positiven Aspekte überwogen. Verglichen mit dem 19. Jahrhundert hat sich die Situation gewaltig verbessert. D.h. man hat den Zwang zum Wachstums gar nicht als solchen empfunden, sondern die Chancen auf mehr Wohlstand gesehen. Heute merken wir aber, dass wir mit noch mehr Wohlstand nicht noch zufriedener werden, dass die Menschen gestresster sind, die Umwelt belastet ist etc. Die negativen Aspekte des Wachstums nehmen zu, doch wir können nicht damit aufhören wegen des Wachstumszwangs.

Wall Street in New York

AFP

An Börsen wie an der Wall Street ist Wachstum beliebt

Mit dem System des Wachstums sind weltweit hunderte Millionen Menschen aus der Armut entkommen. Spricht das nicht dafür?

Binswanger: Diese Menschen sind in der Situation, in der wir im 19. Jahrhundert waren, da überwiegen dies positiven Aspekte des Wachstums noch und - global betrachtet – ist dieses noch stark von Bedürfnissen getrieben. Aber in hochentwickelten Ländern ist das nicht mehr der Fall. Wir haben schon alles, was wir brauchen, und werden mit noch mehr materiellem Wohlstand nicht noch glücklicher.

Was, wenn die Neoklassiker doch Recht haben und das Wachstum bedürfnisgetrieben ist – und wir unsere Bedürfnisse einfach schmälern oder aufgeben?

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 13.6., 13:55 Uhr.

Binswanger: Dann müssten wir ein anderes Wirtschaftssystem haben. Diese Wirtschaft, in der es darum geht, in Geld gemessene Gewinne zu erwirtschaften, funktioniert nicht ohne Wachstum. Wenn man davon wegkommen möchte, muss man sich etwa überlegen, wie Unternehmen organisiert sind. Solange sie v.a. an der Börse notiert sind, kann man gar nichts anderes erwarten, als dass sie immer einen maximalen Gewinn anstreben. Weil wenn das Management das nicht macht, wird das Unternehmen sehr schnell zum Übernahmekandidaten.

Konsumenten können durch Bedürfnisverzicht den Kapitalismus nicht aushebeln?

Binswanger: Lokal kann man sich z.B. in der Lebensmittelversorgung dem Wachstumszwang durch Gründung von Genossenschaften etwas entziehen. Diese können auch andere Ziele als Gewinnmaximierung verfolgen und müssen nicht zwingend wachsen. Aber das ist nur ein ganz kleiner Teil unserer heutigen Wirtschaft. Bei Airbus, Google, Novartis und anderen internationalen Unternehmen sieht es anders aus, da sind genossenschaftliche Lösungen aufgrund des internationalen Wettbewerbs ein frommer Wunsch.

Was halten Sie von Sharing-Ökonomie und dem Prinzip „Reparieren statt kaufen“?

Binswanger: Die Grundidee ist sympathisch und ökologisch sinnvoll. Doch wenn wir immer mehr „teilen“ und nicht mehr kaufen, gerät die Idee schnell in Konflikt zum Wachstumszwang. Sharing bleibt deshalb in einer kapitalistischen Wirtschaft ein Nischenprodukt, welches die herrschende Wirtschaft ergänzt, aber nicht umwälzt. Wenn wir in Zukunft etwa selbstfahrende Autos teilen, bedeutet dies noch lange keine Abkehr vom Wirtschaftswachstum.

Leihfahrräder im Depot

APA/dpa/Daniel Bockwoldt

Leihfahrräder im Depot

Schwerpunkt „Mutter Erde“

„Verwenden statt verschwenden“ ist das Motto des diesjährigen „Mutter Erde“-Schwerpunktes, der sich von 5. bis 16. Juni 2019 in allen ORF-Medien in Fernsehen und Radio sowie online und im Teletext der Wegwerfgesellschaft und den Folgen des Konsums widmet.

Sind Ihre Gedanken ein Plädoyer für einen Kommunismus?

Binswanger: Nein, der hat auch nie funktioniert und war immer ein verkappter, schlecht funktionierender Kapitalismus, wo man künstliche Wettbewerbe inszenieren musste. Wir haben heute noch keine alternative Idee für ein funktionierendes Wirtschaftssystem, welches dem Kapitalismus Konkurrenz macht.

Haben Sie dennoch eine?

Binswanger: Mit anderen Unternehmensformen als Aktiengesellschaften kann man den Wachstumszwang verringern, was schon einen erheblichen Umbau der Wirtschaft darstellen würde. Um völlig vom Wachstumszwang wegzukommen, müssten wir zum Teil die Segnungen des Kapitalismus aufgeben, also seinen enormen materiellen Wohlstand. Dazu sind die Menschen aber in der Mehrheit nicht bereit. Sobald es wirtschaftlich schwierig wird, und es mehr Arbeitslose gibt, ruft man wieder nach Wachstum. Nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen ist bereit, dieses System zu ändern.

Zumindest in einigen europäischen Ländern gibt es aktuell einen starken Trend zu grünen Parteien, Junge demonstrieren für einen Kampf gegen die Klimakrise: Kann Druck Einzelner von unten nicht doch „das System“ verändern?

Binswanger: Der Trend zu grünen Parteien kommt und geht. Er ließ sich auch schon in den achtziger Jahren beobachten, als vor allem gegen Atomkraftwerke protestiert wurde. Dies führte seither dazu, dass das Wachstum etwas grüner gestaltet wurde, aber trotzdem weitehrgeht. Wir merken zunehmend, dass wir nicht einfach auf einem bestimmten Niveau mit dem Wachstum aufhören können. Zunehmend werden wir uns bewusst, dass nicht mehr wir das Wirtschaftssystem beherrschen, sondern dieses uns beherrscht und uns ein gewisses Verhalten aufzwingt. Daraus auszubrechen ist eine große Herausforderung für die Zukunft.

Interrview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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