240 Wörter pro Minute: So schnell lesen wir

Der durchschnittliche englische Leser schafft knapp 240 Wörter in der Minute. Das ist langsamer als gedacht, wie eine Neuauswertung von fast 200 Einzelstudien ergab. Bei einem deutschen Leser sind es vermutlich noch etwas weniger.

Heute ist Lesen in der Regel eine stille Beschäftigung. Das war nicht immer so. Erst im Mittelalter wurde es allgemein üblich, leise anstatt laut zu lesen. Fest steht: Leises Lesen ist ziemlich effizient, man schafft deutlich mehr Text als beim lauten Vortrag. Meist ist von etwa 300 Wörtern in der Minute die Rede. Ob das ungefähr den Tatsachen entspricht, hat Marc Brysbaert von der belgischen Ghent Universität nun versucht herauszufinden.

Für seine vorerst als Preprint erschienene Analyse hat er 190 Arbeiten zum Thema mit insgesamt 17.887 Teilnehmerinnen und Teilnehmern neu ausgewertet. Sie waren zwischen 17 und 60 Jahre alt, durchgeführt wurden die Studien zwischen 1901 und 2019. Die verwendeten Texte waren alle in lateinischer Schrift geschrieben, die meisten waren auf Englisch. Dabei versuchte Brysbaert, die Unterschiede im Studiendesign zu berücksichtigen. Diese lagen etwa darin, wie lang die zu lesenden Passagen waren und ob anschließend Verständnisfragen sowie andere Tests folgten.

Weniger deutsche Wörter

Im Durchschnitt kam Brysbaert auf eine Lesegeschwindigkeit von 238 Wörtern in der Minute, bei fiktionalen Texten waren es etwas mehr, nämlich 260. Es gibt außerdem relativ große interindividuelle Unterschiede: Die Spannbreite reicht von 175 bis 300 Wörtern, bei fiktionalen Texten sind es 200 bis 320. Zum Vergleich: Laut gesprochen schaffen Leserinnen und Leser etwa 183 Wörter pro Minute, wie eine Auswertung von 77 Studien zeigt.

Die Ergebnisse lassen sich laut Brysbaert auch auf andere Sprachen umlegen, die das lateinische Alphabet verwenden. Man müsse nur die sprachlichen Besonderheiten berücksichtigen. So verwendet man zum Beispiel im Englischen relativ viele Funktionswörter (Artikel, Fürwörter, Verhältniswörter etc.). Das gilt auch für die deutsche Sprache. Allerdings werden im Deutschen Hauptwörter häufiger zusammengesetzt als im Englischen. Das heißt, deutschsprachige Leser schaffen vermutlich im Durchschnitt noch etwas weniger Wörter.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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