Wittgenstein-Preis an Historiker und Mikrobiologen

Der Wittgenstein-Preis geht heuer an zwei Forscher: an den Historiker Philipp Ther, bekannt für seine Erklärstücke zu aktuellen Entwicklungen in Europa, und den Mikrobiologen Michael Wagner, Experte für die Welt der Mikroben.

Der Wissenschaftsfonds FWF verlieh die auch als „Austro-Nobelpreis“ bekannte Auszeichnung am Montagabend in Wien. Sie ist mit jeweils 1,5 Mio. Euro dotiert und der höchste Wissenschaftsförderpreis in Österreich. Gleichzeitig erhielten sechs Nachwuchsforscher die mit jeweils rund 1,2 Mio. Euro dotierten Start-Preise.

Historiker mit aktuellen Bezügen

Philipp Ther (52) ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien und in diesem Studienjahr als Gastprofessor bzw. mit einem Freisemester an der New York University tätig. In den vergangenen Jahren wurde er mit seinen Büchern auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Sein 2014 erschienenes Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ wurde 2015 mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Die Geschichte Europas als eine Geschichte massenhafter Fluchtvorgänge beschreibt er in seinem 2017 erschienenen Buch „Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“ (beide Suhrkamp).

Philipp Ther

FWF Novotny

Philipp Ther

Ther ist gerade dabei, sein nächstes Buch fertigzustellen, das im Herbst wieder bei Suhrkamp erscheint. „Das andere Ende der Geschichte. Die große Transformation“ lautet der Titel, und es wird sich der Frage widmen, „warum die Geschichte ganz anders geendet hat, als 1989 erwartet wurde“, sagt der im Vorarlberger Kleinwalsertal geborene Historiker, der die deutsche und österreichische Staatsbürgerschaft hat, im Gespräch mit der APA. Habe man damals angenommen, alles ende in der Marktwirtschaft und in der liberalen Demokratie, „sind wir nun mit einer Renaissance des Nationalismus und mit Illiberalismus konfrontiert“.

Mit dem Wittgenstein-Preis will er vor allem den von ihm aufgebauten Research Cluster for East Central Europe and the History of Transformations (RECET) ausbauen. Mit einem Team junger Wissenschaftler will er sich dort dem Thema Wirtschaftsreformen und ihren sozialen Folgen widmen, die von steigender sozialer und regionaler Ungleichheit bis hin zum Phänomen der Arbeitsmigration sehr weitreichend seien. Ther hat dabei nicht nur die Transformationen in Osteuropa im Fokus, sondern plant auch, global zu vergleichen, etwa die Entwicklung in postsozialistischen Ländern wie China und Vietnam, aber auch Westeuropa. „Denn die postkommunistische Transformation hat ja Westeuropa ko-transformiert.“

Vielzitierter Mikrobenexperte

Michael Wagner (53) ist seit 2003 Professor für Mikrobielle Ökologie an der Uni Wien. Der gebürtige Bayer zählt zu den meistzitierten Wissenschaftlern Österreichs und den weltweit führenden Forschern bei der Untersuchung von Mikroorganismengemeinschaften (Mikrobiomen), die von entscheidender Bedeutung für das Leben und die Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen sind.

Allerdings können bis heute die meisten Mikroben nicht im Labor gezüchtet und mit konventionellen Verfahren untersucht werden. Wagner hat in den vergangenen 25 Jahren Methoden entwickelt, die es erstmals erlauben, Bakterien, Viren und Archaeen direkt in medizinischen oder Umweltproben zu untersuchen.

Michael Wagner

FWF Novotny

Michael Wagner

Ein Schwerpunkt seiner „sehr stark neugiergetriebenen“ Forschung liege auf Mikroben, die wesentliche Funktionen im globalen Stickstoffkreislauf ausführen, so der „anwendungsoffene Grundlagenforscher“ gegenüber der APA. Diese Nitrifikanten sind dafür verantwortlich, dass der in der Landwirtschaft verwendete Stickstoffdünger nicht von den Pflanzen aufgenommen wird, sondern in die Gewässer gelangt und dort zu Problemen wie Algenblüten führt. Zudem produzieren diese Mikroben Lachgas, ein wirksames Treibhausgas. Wagner hat in den vergangenen Jahren zahlreiche neuartige Nitrifikanten identifiziert, etwa Comammox-Bakterien, die völlig andere Stoffwechseleigenschaften haben. Nicht nur auf diesem Gebiet biete sein Wissenschaftsbereich noch jede Menge „Terra incognita“.

Mit dem Preisgeld will Wagner, der mittlerweile zu „40 Prozent“ über die Entwicklung von Forschungsmethoden und zu „60 Prozent über die Organismen selbst“ nachdenkt, das heuer gegründete und von ihm geleitete Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft als weltweit führenden Forschungsstandort in diesem Bereich ausbauen. Sein Ziel ist es, neue Methoden zur funktionellen Analyse von Mikrobiomen zu entwickeln, die deutlich raschere Ergebnisse liefern.

Nachwuchsförderung durch Start-Preise

Der Wittgenstein-Preis soll exzellenten Forschern „ein Höchstmaß an Freiheit und Flexibilität bei der Durchführung ihrer Forschungstätigkeit garantieren, um eine außergewöhnliche Steigerung ihrer wissenschaftlichen Leistungen zu ermöglichen“. Mit den Start-Preisen will man jüngeren Forschern die Möglichkeit bieten, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungsarbeiten zu planen und sich durch die Leitung einer Arbeitsgruppe für eine Führungsposition im Wissenschaftssystem qualifizieren.

Einen Start-Preis erhalten die drei Physiker Moritz Brehm vom Institut für Halbleiter- und Festkörperphysik der Universität Linz, Christoph Gammer vom Erich Schmid Institut für Materialwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Leoben und Richard Wilhelm vom Institut für Angewandte Physik der Technischen Universität (TU) Wien, die Mathematikerin Christa Cuchiero vom Institut für Statistik und Mathematik der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien und der Mathematiker Jose Luis Romero von der Fakultät für Mathematik der Universität Wien sowie der Historiker Bruno de Nicola vom Institut für Iranistik der ÖAW in Wien.

Alle Preise werden vom Wissenschaftsministerium finanziert und vom FWF vergeben, die Preisträger werden von einer Jury ausländischer Wissenschaftler ausgewählt.

science.ORF.at/APA

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