Agil mit 90

Jürgen Habermas ist einer der wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart. Bis heute greift der Philosoph zur wichtigsten Waffe der Demokratie, dem öffentlichen Argument. Am Dienstag feiert er seinen 90. Geburtstag – und ist dabei erstaunlich agil.

Das betrifft die Publikationstätigkeit des Jubilars: Rund 1.700 Seiten wird sein neues, Ende September bei Suhrkamp, seinem Stammverlag, erscheinendes Buch lang sein und mit leichtem Understatement „Auch eine Geschichte der Philosophie“ heißen. Habermas verspricht, darin einen historischen Überblick über die Trennung von Glauben und Wissen im westlichen Denken zu liefern.

Agilität beweist Habermas auch zum Geburtstag selbst. Mittwochabend hält er an der Goethe-Universität Frankfurt, wo er den Großteil seines akademischen Lebens verbracht hat, quasi seinen eigenen Festvortrag. Das Thema: Moral und Sittlichkeit.

Habermas im Mai 2012 bei einer Preisverleihung in Wien

APA - Herbert Neubauer

Habermas im Mai 2012 bei einer Preisverleihung in Wien

Im Clinch mit Heideggers Verteidigern

Geboren wird Habermas am 18. Juni 1929 in Düsseldorf, Kindheit und Jugend verbringt er in Gummersbach, nach der Matura studiert er Philosophie, Psychologie, Literatur, Geschichte und Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn – wo er über Schelling promoviert.

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichten auch die Ö1-Journale, 18.6., 12.00 Uhr.

Schon als junger Student legt sich Habermas mit Autoritäten an, etwa mit Martin Heidegger, dem damals einflussreichsten Philosophen Deutschlands. Als Heidegger 1953 eine aus der NS-Zeit stammende Vorlesung veröffentlicht, in der er von der „inneren Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung spricht, platzt Habermas der Kragen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wirft er Heidegger vor, Teil einer um sich greifenden Rehabilitation des Nationalsozialismus zu sein – was ihm seinerseits Kritik von konservativer Seite einbringt.

Wohin seine intellektuelle Reise geht, ist spätestens hier aber klar: Die Abkehr vom Hitler-Regime und die Mitarbeit an einem neuen, an Freiheit und Demokratie orientierten Deutschland ist für Habermas eine Lebensaufgabe.

Mit Adorno gegen Popper und Co.

1956 wird Habermas Assistent am Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Mit dem einen Institutsdirektor, Max Horkheimer, verbindet ihn lange Zeit vor allem Zwist, mit dem anderen, Theodor W. Adorno, wird er zum Vordenker der antiautoritären Studentenbewegung. Im Positivismusstreit Anfang der 60er Jahre argumentieren die Protagonisten der Frankfurter Schule gemeinsam gegen das Verständnis, das Philosophen wie Karl Popper und Hans Albert von den Sozialwissenschaften haben.

1964 übernimmt Habermas Horkheimers Professur für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er reist viel, ist Gastprofessor u. a. in New York, Harvard und Paris und setzt sich für eine grundlegende Demokratisierung der Universitäten ein. In diese Zeit fällt auch Habermas’ Warnung vor einem „linken Faschismus“, den er in allzu radikalen studentischen Studentengruppen sieht – eine Wortwahl, die er später bedauern sollte.

Soziologentagung in Heidelberg 1964: Horkheimer und Adorno im Vordergrund, Habers streicht sich im Hintergrund durchs Haar.

CC BY-SA 3.0 - Jjshapiro

Soziologentagung in Heidelberg 1964: Horkheimer und Adorno im Vordergrund, Habermas fährt sich im Hintergrund durchs Haar

Öffentlichkeit und politische Macht

Anfang der 70er Jahre wird Habermas Direktor eines neuen Max-Planck-Instituts, das im bayrischen Starnberg die „Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ erforscht. In diese Zeit fällt die Kontroverse mit dem Soziologen Niklas Luhmann über Systemtheorie und kritische Gesellschaftstheorie.

Im Historikerstreit 15 Jahre später bestreitet Habermas die Ansicht Ernst Noltes, wonach der Nationalsozialismus nur eine Antwort gewesen sei auf den sowjetischen Kommunismus. Als Intellektueller mischt er sich in zahlreiche Debatten ein und fordert auch alle anderen dazu auf, sich einzumischen. Denn Öffentlichkeit und politische Macht hängen auf einzigartige Weise zusammen, wie Habermas in einem kurzen Ausschnitt aus dem Archiv argumentiert:

Ideale Sprechsituation

Habermas hat seit der Kindheit eine Sprachbehinderung. Das ist einer der Gründe, warum er seine intellektuelle Hauptaufgabe im Schreiben von Texten sieht, und vielleicht auch, warum er sich für Minderheiten engagiert. Im Zentrum seines Denkens steht die Kommunikation.

Wichtigste Werke

  • Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962
  • Erkenntnis und Interesse, 1968
  • Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971 (mit Niklas Luhmann)
  • Theorie des kommunikativen Handelns, 1981
  • Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985
  • Faktizität und Geltung, 1992
  • Zur Verfassung Europas, 2011

In seiner Diskurstheorie sucht er nach Regeln, mit denen alle Menschen gleichberechtigt an einer Diskussion teilnehmen können. Nur in dieser idealen Sprechsituation – die es zwar empirisch nicht gibt, die es aber anzustreben gilt –, könnten sich vernünftige Argumente durchsetzen. Und nur diese vernünftigen und damit besseren Argumente können helfen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.

Grundvoraussetzung dafür ist eine Öffentlichkeit, in der man Argumente austauschen und in der man sie ablehnen oder ihnen zustimmen kann. „Zustimmung heißt aber, dass der Einfluss, den man über öffentliche Meinung erwirbt, nur gewonnen werden kann dadurch, dass andere von ihrer Fähigkeit, Ja oder Nein zu sagen, Gebrauch machen“, sagt Habermas in einem weiteren Archivausschnitt:

Habermas bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 mit seiner Frau Ute

AP Photo/Frank Rumpenhorst

Habermas bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 mit seiner Frau Ute

Zahlreiche Ehrungen

Habermas glaubt an die Wirkung öffentlicher Debatten. Er selbst hat unzählige geführt oder ausgelöst, die Themen reichen von Zeitgeschichte über NATO-Einsätze bis zur Bioethik. Habermas ist ein leidenschaftlicher Verteidiger der Idee Europas, in den vergangenen Jahren hat er sich verstärkt der philosophischen Auseinandersetzung mit der Religion zugewandt.

Schon vor dem 1.700-Seiter, der im Herbst erscheinen soll, schrieb er an die 50 Bücher und ungezählte Artikel. 2010 überließ Habermas der Frankfurter Universitätsbibliothek für den Vorlass knapp 20 Archivmeter Manuskripte und Briefe. Er wurde vielfach ausgezeichnet, darunter in Wien mit dem Bruno-Kreisky-Preis, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sowie mit den hoch dotierten Kyoto- und Holberg-Preisen. Eine besondere Ehre: Noch zu Lebzeiten hat ihm die britische Universität Cambridge ein eigenes Lexikon gewidmet.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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