Kultur prägt kindliches Denken

Abstrakt zu denken, müssen kleine Kinder erst lernen. Wann sie das tun, dürfte auch von Kultur und Sprache abhängen. Experimente zeigen: Bei manchen Aufgaben schneiden Dreijährige in China deutlich besser ab als gleichaltrige US-Kinder.

Abstraktion hilft uns beim Denken. Nicht nur bei formalen und logischen Aufgaben, sondern auch im Alltag. Die Welt lässt sich dadurch verallgemeinern bzw. vereinfachen, unter anderem indem man Objekte in Kategorien zusammenfasst. Blitzschnell erkennen wir z.B. einen Tisch als „Tisch“, auch wenn Tische sehr unterschiedlich aussehen können. Außerdem wissen wir, dass es sich um ein Möbelstück handelt. Solche Begriffe und Oberbegriffe machen das Leben sehr viel leichter.

Die Welt der materiellen und immateriellen Dinge auf diese Weise zu strukturieren, müssen Kinder erst lernen. Wann sie damit beginnen, ist umstritten. Klassische entwicklungspsychologische Theorien – wie die von Jean Piaget - gehen von einem vielstufigen Prozess vom Konkreten zum Abstrakten aus. Nach neueren Ansätzen beginnen abstraktes Denken bzw. seine Vorformen aber schon in den ersten Lebensjahren. Außerdem ist die Entwicklung wahrscheinlich weit weniger linear als angenommen, mitunter gibt es sogar zwischenzeitliche Rückschritte. So tun sich dreijährige Kinder oft schwerer, Beziehungen zwischen Objekte – wie z.B. Ähnlichkeit – zu erkennen als jüngere. Ein Grund könnte sein, dass ihr Wortschatz gerade drastisch wächst, sie sich daher eher auf einzelne Wörter und ihre Bedeutung konzentrieren und weniger auf Zusammenhänge.

Rückschritt in der Entwicklung

Erst jüngere Arbeiten liefern Hinweise, dass es diesen Rückschritt in der Abstraktion offenbar nicht überall gibt. Bei Untersuchungen in asiatischen Ländern wie etwa in Japan und China schneiden dreijährige Kinder nämlich deutlich besser ab als ihre Altersgenossen in den USA. Das spricht dafür, dass die Entwicklung auch von der Umgebung, der Kultur und der Sprache geprägt sein könnte.

Grafik: Geometrische Figuren für Denkaufgabe

Courtesy Carstensen et al, PNAS.

Bei der ersten Aufgabe ging es um Ähnlichkeiten, bei der zweiten um Unterschiede, die beiden Aufgabenstellungen finden sich ganz unten.

Um das zu überprüfen, haben die Forscher um Alexandra Carstensen von der Stanford University, nun Experimente mit insgesamt etwa 400 Kindern im Alter von 18 bis 48 Monaten in den USA sowie in China durchgeführt. Die Aufgaben waren da wie dort dieselben. Grundsätzlich ging es immer darum, einfache Zusammenhänge zwischen geometrischen Figuren wie Kreisen oder Dreiecken zu erkennen, einmal waren Ähnlichkeiten gefragt, das andere Mal Unterschiede (siehe Abb.). Im Alter von unter drei Jahren waren die Kinder überall ungefähr gleich gut beim Lösen der Aufgaben. Im Alter von drei Jahren hatten die US-Kinder plötzlich Probleme, die Zusammenhänge zu erkennen; die chinesischen Kinder schnitten nun deutlich besser ab.

Erlernte Neigungen

Bleibt die Frage, warum die westlichen Kinder bereits Gekonntes wieder verlernt hatten, nicht aber die asiatischen Kinder. Das könnte mehrere Gründe haben, so die Psychologen, z.B. kulturelle oder umgebungsbedingte. Jedenfalls dürfte es sich um eine erlernte Neigung handeln, worauf die Kinder ihre Aufmerksamkeit richten: In den USA sind es wohl eher die einzelnen Objekte und nicht die Art und Weise, wie diese miteinander verknüpft sind.

Das wiederum könnte mit der Sprache bzw. ihrem Erwerb zu tun haben. Wenn Kinder Englisch (als Muttersprache) lernen, gibt es laut den Studienautoren eine Phase, in sehr viele neue Hauptwörter dazukommen. Kinder, die Mandarin lernen, verwenden hingegen mehr Verben, wenn sie zu sprechen beginnen. Vielleicht haben sie genau deswegen in Experimenten weniger Probleme, die Beziehungen zwischen Objekten zu erkennen, mutmaßen die Forscher. Immerhin beschreiben Zeitwörter ja ebenfalls solche Verhältnisse. Beim Erlernen der Hauptwörter gehe es vielmehr um die Eigenschaften einzelner Objekte.

Aber nicht nur die Sprache könnte die Erwartungshaltung der Kleinen beeinflussen, betonen Autoren. Auch andere kulturelle Faktoren können eine Rolle spielen, z.B. der Denkstil, der in einem Land besonders ausgeprägt oder weit verbreitet ist. Denken die Menschen eher ganzheitlich oder analytisch, individualistisch oder kollektivistisch? Wie sehr diese und andere Unterschiede die kognitive Entwicklung tatsächlich prägen, wollen die Forscher nun auch in anderen Kulturkreisen und Sprachgruppen untersuchen.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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