„Kulturkampf um die Wissenschaft“

Heute hat sich das ungarische Parlament für die umstrittene Neuorganisation der Akademie der Wissenschaften entschieden. Für die Soziologin Éva Kovács ist die Wissenschaft Teil eines Kulturkampfes um das Selbstbild einer Nation.

Die Central European University, die Akademie der Wissenschaften, das Institut zur Erforschung des Jahres 1956 – worum geht es in den Auseinandersetzungen der Regierung mit wissenschaftlichen Einrichtungen?

Éva Kovács: Um einen Kulturkampf. Die Regierung will eine „ungarische“ Kultur und Wissenschaft, die internationale Normen nicht akzeptieren muss, sondern die ungarische Seele symbolisiert - und das ist erschreckend. Da wird in eigens gegründeten Einrichtungen Wissen produziert, das man international kaum publizieren kann. Die Publikationssprache ist meist ungarisch, es gibt keine Teilnahme an internationalen Tagungen, Befunde widersprechen oft früheren Studien, ohne dass sie wissenschaftlich belastbar sind. Ich bezeichne das als hungarologische Pseudowissenschaft. Das betrifft die Geschichte genauso wie die Sprachwissenschaften bis hin zu Soziologie und Politikwissenschaft.

Das Institut 1956 erforscht die Geschichte des Revolutionsjahres, als tausende Ungarinnen und Ungarn gegen die sowjetische Besatzung protestiert haben. Die Regierung hat dieses Institut aufgelöst und dem neugegründeten Institut Veritas einverleibt – warum?

Éva Kovács: Weil es um die Erinnerung an die Revolution 1956 geht, von der es nie ein gemeinsames Bild gegeben hat. Das Selbstbild Ungarns zum 2. Weltkrieg und zur Zeit bis zur Wende 1989 oszilliert zwischen Heldentum und Opferstatus. Waren die Ungarn Helden, die gegen fremde Mächte aufgetreten sind, oder Opfer fremder Besatzungen? Derzeit tendiert der offizielle Blick wieder mehr Richtung Opfer, denn eine revolutionäre politische Identität kann gefährlich sein. Das Problem der Regierung Orbán mit dem Institut 1956 ist, dass es dieses spezielle Jahr aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Erfahrungsgeschichten aufgearbeitet hat. Diese bunte Erinnerung war dort sehr präsent.

Inwiefern?

Éva Kovács: Die Historikerinnen und Historiker haben viele Interviews geführt und Feldstudien gemacht. So wurde Schritt für Schritt die Geschichte der Revolution rekonstruiert – und die ist nicht einheitlich. Da gab es einfache Leute, die gegen die sowjetische Besatzung auf die Straße gegangen sind. Es gab Mitläufer auf beiden Seiten. Und es gab reformkommunistische Politiker, die den Widerstand auf höchster Ebene vorangetrieben haben. Sie sind in den Archiven des Instituts präsent, in der politisch gewollten Erinnerung aber nicht. Ein Politiker wie der damalige Ministerpräsident Imre Nagy spielt in dieser Version der Geschichtsschreibung keine Rolle mehr.

Was bedeutet dieses Ringen um die gemeinsame Geschichte für das Institut 1956?

Éva Kovács: 2011 hat man das zuvor unabhängige Institut der Nationalbibliothek zugeordnet, wo die wissenschaftliche Arbeit fortgesetzt werden konnte. Nun hat man es aufgelöst und dem Institut Veritas einverleibt – einem pseudohistorischen Institut, dessen Leiter sich offen antisemitisch äußert. Ungeklärt ist derzeit, was mit den mehr als 600 Interviews passiert, die in den letzten 30 Jahren geführt wurden. Es gibt die Angst, dass diese Interviews politisch instrumentalisiert werden könnten. Derzeit wird geprüft, ob die Interviews als geschlossene Sammlung in der Nationalbibliothek bleiben können.

Eva Kovacs, Forschungsleiterin am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Studien

Elke Ziegler, science.ORF.at

Éva Kovács hat Ökonomie und Soziologie an der Corvinus Universität in Budapest studiert. Sie ist Forschungsleiterin am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien und am Institut für Soziologie an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsfelder sind u.a. Geschichte und Geschichtsschreibung des Holocaust in Osteuropa sowie Gedächtnis- und Erinnerungsforschung.

Die Natur- und Technikwissenschaften sind von der Wissenschaftspolitik der Regierung nicht betroffen?

Éva Kovács: Weniger. Die Physiker und Biologen werden wahrscheinlich mit der Umstrukturierung der Akademie der Wissenschaften nicht so große Schwierigkeiten haben, aber Geschichtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie sind massiv von Institutsschließungen bedroht.

Die Regierung sagt immer wieder, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften zu wenig innovativ sind und zu wenig Geld einwerben – stimmt das?

Éva Kovács: Die Geistes- und Sozialwissenschaften waren sehr erfolgreich in EU-Programmen wie Horizon 2020 und dem Vorläufer FP7. Ich habe selbst ein Projekt über kulturelle Opposition in Osteuropa geleitet, das aus EU-Mitteln finanziert wurde. Meiner Meinung nach hat die Regierung eher das Problem, dass man diese Projekte ohne Unterstützung der heimischen Politik bekommt. Das sind absolut kompetitive Ausschreibungen, von hunderten Einreichungen können nur ganz wenige ihr Vorhaben verwirklichen. Und die Ergebnisse sind nicht besonders attraktiv für die Regierung. Der Zugang zu diesen finanziellen Quellen soll nun zentralisiert werden.

Wie sehen Sie die Zukunft der ungarischen Wissenschaft?

Éva Kovács: Ich bin wahnsinnig skeptisch. Viele Kolleginnen und Kollegen sind schon weg, und von jenen, die noch da sind, denken viele darüber nach, wie sie eine Position im Ausland bekommen können. Auch unter dem Nachwuchs sehe ich diese Entwicklung. Ich unterrichte an der Elte-Universität in Budapest und sehe: Ein Großteil der besten Studierenden ist schon weg.

Heute wurde das Gesetz zur Neuorganisation der ungarischen Akademie der Wissenschaften beschlossen. Kritiker meinen, die Regierung möchte mehr Zugriff auf die Wissenschaft – teilen Sie diesen Befund?

Éva Kovács: Nicht nur. Die Akademie der Wissenschaften wird ihre Unabhängigkeit verlieren, und jeder einzelne wird sich fragen müssen: Bleibst du an diesem Institut? Versuchst du die Grenzen auszureizen oder zensurierst du dich langsam selbst? Genau das ist in den 1970er und 1980er Jahren in Ungarn passiert, nun sehen wir eine Neuauflage.

Interview: Elke Ziegler, Ö1-Wissenschaft

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