Worin Weisheit besteht

Was ist eigentlich weise? So einfach lässt sich das nicht beantworten, meint der Leiter des ersten Forschungszentrums für angewandte Weisheit. Jedenfalls sei es kein endgültiger Zustand, sondern eine bewusste Art zu denken, die auch Gefühle und Moral miteinbezieht.

Mit dem Wesen der Weisheit beschäftigten sich große Denker schon seit der Antike, aber die im modernen Sinn wissenschaftliche Weisheitsforschung hat eine eher kurze Geschichte. Vereinzelte Pionierarbeit gab es zum Beispiel durch die österreichische Psychologin Judith Glück von der Universität Klagenfurt, doch das erste Forschungszentrum zur Weisheit wurde gerade einmal vor drei Jahren (2016) an der University of Chicago in den USA gegründet. Das „Center for Practical Wisdom“ ist ein interdisziplinärer Versuch herauszufinden, wie Entscheidungen weise werden. Spricht man mit Howard Nusbaum, dem Direktor des Zentrums in Chicago, dann merkt man schnell, wie zurückhaltend und vielschichtig er spricht: Nichts wird einfach bejaht oder verneint oder definiert.

Das mag an der intellektuellen Bescheidenheit liegen, die Weisheitsforscherinnen als eine der wichtigsten Komponenten von weisem Handeln predigen - gewissermaßen sich selbst zu hinterfragen. So gesehen hält die sokratische Weisheit „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ der Forschung stand. Wenn man es mit Aristoteles hält, könne man Weisheit womöglich so verstehen, erklärt Nusbaum: „Weises Denken sei solches, das zu Entscheidungen führt, die Menschen gedeihen lassen.“

Falle Hausverstand

Und dabei gilt es einige Hindernisse zu nehmen: Geht man vom gern bemühten „Hausverstand“ aus, der uns alle bei Entscheidungen anleitet, gibt es das Problem, dass dieser hauptsächlich auf der eigenen Lebenserfahrung beruht. Dabei stellen sich einige Probleme, erklärt Nusbaum, denn jeder ist voll von angelernten Vorurteilen und Abkürzungen im Denken.

Fallen, in die man tappt, wenn man nicht umsichtig und bewusst genug denkt, und - weiser - in etwas Distanz zu sich selbst geht, sagt Howard Nusbaum: „Beim weisen Denken geht es uns darum, über die Fallen des Hausverstandes und dessen Grenzen hinauszukommen. Denn diese Entscheidungen, die man hauptsächlich für sich selbst trifft, können oft sehr kurzsichtig sein.“ In der Weisheitsforschung gehe es darum, möglichst das gesamte Umfeld gedeihen zu lassen – das habe nachhaltig auch den größtmöglichen positiven Effekt für einen selbst.

Gefühlvoll, moralisch, rational

Nur rational und logisch-analytisch zu handeln sei dabei genauso wenig weise. Bestenfalls ist das nur ein Teil von weisen Entscheidungen, wie die Forschung schnell klargemacht habe. In der Wissenschaft und Wirtschaft halte sich aber unglücklicherweise seit den 1970er Jahren das Bild eines Homo oeconomicus, der ganz rational und unemotional die besten Entscheidungen trifft, sagt der Psychologe Nusbaum. Aber Emotionen, so zeigt die Weisheitsforschung, seien nicht Ablenkung, sondern wichtige Information.

Oft würden Gefühle Informationen besser und schneller in ihrer Gesamtheit einschätzen, als wir dies bewusst analytisch könnten. Gefühle können uns aber auch - wenn nicht bewusst wahrgenommen - zu falschen Entscheidungen führen. Kurz gefasst: Häufiger handeln solche Menschen weise, die sich ihrer eigenen Gefühle und Reaktionen, ihrer Fähigkeiten und Einschränkungen sehr bewusst sind.

Dabei gehe es nicht darum, Gefühle zu unterdrücken oder sie zu kontrollieren, wie Nusbaum schnell noch betont, sondern darum, sie zu erkennen, und zu wissen, welchen Einfluss sie haben, und dann zu entscheiden, wie man damit umgehen möchte. Und auch moralisches Denken sei ein wichtiger Faktor im weisen Entscheiden, das positive Effekte für viele hat. Denn schließlich gehe es darum, was man selbst, aber auch andere für „richtig“ befinden.

Moderne Weisheit fehlt eher

Das moderne Alltagsleben in Schule, Arbeit oder Politik fordere aber meist das Gegenteil von weiser Selbsterkenntnis ein: Selbstsicherheit, Ellenbogentaktik und angeblich gefühlslose Rationalität. Gerade die derzeit geringer - als etwa reine Wissenschaft - geschätzten Künste wären Werkzeuge, um Weisheit zu erlangen, legt Nusbaum nahe. Literatur beispielsweise helfe seit Jahrhunderten, die Schwächen und Stärken der menschlichen und eigenen Natur durchzudenken, sei das in der Welt der Odyssee oder Harry Potters. Aber auch im Wald spazieren gehen, schreiben, malen, oder musizieren helfe der Selbstreflexion.

Und obwohl auch Lebenserfahrungen helfen und tendenziell Menschen mit fortschreitendem Alter eine bessere Selbsteinschätzung entwickeln und weiser handeln: Alter alleine macht einen nicht weise. Denn Weisheit, sagt Howard Nusbaum, ist kein Status, den man einmal erreicht, sondern eher eine bewusste Art zu denken, die das eigene Wohlergehen und das Wohlergehen anderer miteinbezieht. Und eine Denkweise, die man auch bewusst verfolgen muss – und das nicht mit dem Ziel, „weise“ zu sein, sondern die nächsten Entscheidungen jeweils ein Stück weiser zu treffen.

Isabella Ferenci, Ö1-Wissenschaft

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