Schon Kleinkinder erwarten Moralautorität

Schon 17 Monate alte Kinder bevorzugen laut einer neuen Studie Hierarchien: Werden sie Zeugen einer ungerechten Handlung in einer Gruppe, wollen sie, dass die Teamleader einschreiten und für Gerechtigkeit sorgen.

Ein Sinn für Gerechtigkeit gehört zum menschlichen Wesen, sagt die Studienautorin Maayan Stavans. „Er ist schon im Alter von nur vier Monaten nachgewiesen worden“, so die Psychologin von der Central European University in Budapest gegenüber science.ORF.at.

Studie

“Infants expect leaders to right wrongs“, PNAS, 29.7.2019

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 30.7., 13:55 Uhr.

Eine wichtige Rolle für die Herstellung von Gerechtigkeit spielen soziale Gruppen. „Wir wissen, dass Erwachsene von den Gruppenanführern oder -anführerinnen erwarten, dass sie gegen Regelüberschreitungen vorgehen“, so Stavans. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Renée Baillargeon von der University of Illinois hat sie nun untersucht, wann diese Erwartungen auftauchen.

Kinder, die auf Bären starren

Da man junge Kleinkinder nicht besonders gut befragen kann, haben die beiden Forscherinnen eine übliche Methode der Entwicklungspsychologie verwendet: Je länger Kleinkinder oder Babys demnach auf ein Geschehen starren, desto eher geschieht etwas, das sie nicht erwarten. Wenden sie ihre Blicke hingegen schneller ab, so entspricht das Gesehene eher ihre Erwartungen.

Dieses Prinzip haben Stavans und Baillargeon nun in einer Reihe von Experimenten angewandt. Zu Beginn gewöhnten sie dabei die insgesamt 120 Kleinkinder an die Laborsituation. Die Kinder saßen auf dem Schoß eines Elternteils und bekamen ein Puppenschauspiel zu sehen: drei Bären in verschiedenfarbigen Overalls, wobei der rote Bär Kommandos gab, die die beiden anderen befolgen („Leader-Bär“) oder eben nicht („Nichtleader-Bär“). Um für die Kinder als „Leader-Bär“ zu gelten, reichte es aber auch schon aus, deutlich größer zu sein als die beiden anderen Bären.

Grafik zum Bären-Experiment

Renee Baillargeon

Oben: ein roter „Leader-Bär“ sorgt für Gerechtigkeit

Dann kamen zwei Spielzeuge hinzu: In der gerechten Situation griff jeder der beiden anderen Bären zu einem davon, in der ungerechten schnappte sich ein frecher Bär beide Spielzeuge. Im letzteren Fall erwarteten die Kleinkinder, dass der rotgewandete „Leader-Bär“ eingreift und für Gerechtigkeit sorgt – sprich dem frechen Bären ein Spielzeug wegnimmt und dem anderen übergibt. Tat er das nicht („Non-Intervention Event“), entsprach das nicht den Erwartungen der Kinder, und sie starrten länger auf das Schauspiel. Bei einem als „Nichtleader“ betrachteten roten Bären taten sie das hingegen nicht – von ihm erwarteten sie erst gar keine Handlungen, die Gerechtigkeit herstellen.

”Grundlegender Teil der menschlichen Moral”

In einem weiteren Experiment erklärte einer der Bären, dass er gar kein Spielzeug wolle, und der andere Bär nahm beide Objekte. In diesem Fall starrten die Kinder länger hin, wenn ein „Leader-Bär“ die Spielzeuge wieder aufteilte. „Es schaut so aus, als ob die Kinder verstanden hätten, dass es sich dabei um keine Regelverletzung gehandelt hat“, sagt Maayan Stavans, die zum Zeitpunkt der Experimente an der Universität Bar Ilan im israelischen Ramat Gan gearbeitet hat. Die Kinder hätten in dem Fall deshalb auch keine Intervention erwartet.

Kinder, so fassen die Psychologinnen zusammen, würden den Anführern und Anführerinnen sozialer Gruppen schon sehr früh bestimmte Eigenschaften zuschreiben – darunter auch jene, ungerechtes Verhalten zu bekämpfen. „Unsere Ergebnisse unterstützen die These, dass eine abstrakte Erwartung von Autorität ein grundlegender Teil der menschlichen Moral ist“, schreiben sie in der Studie.

Dass Gruppen für die Konkretisierung dieser Erwartung wichtig sind, erklärt Stavans mit der Evolution des Menschen. „Um zu überleben und Herausforderungen zu meistern, die Einzelne übersteigen, haben unsere Vorfahren in Gruppen gelebt. Aus dem Drang, gemeinsame Handlungen zu koordinieren, hat sich eine Anführerschaft entwickelt, die auch für das Einhalten von Gruppenregeln zuständig ist“, so Stavans. Die Anlage dazu gebe es bis heute, sie sei universal und nicht von verschiedenen Kulturen abhängig, sagt die Psychologin.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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