Vom Leben im ganz Falschen

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ist der wohl bekannteste Satz von Theodor W. Adorno. Zum 50. Todestag ein Rückblick auf das Leben des Philosophen und Soziologen – samt erstaunlich aktueller Warnung vor dem Rechtsradikalismus.

„Die Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ Dieser Satz des Philosophen und Soziologen könnte als Motto seiner theoretischen Werke dienen. Adorno zerstörte konventionelle Denkschablonen, die von Generationen gepflegt wurden. Er wandte sich gegen die optimistische Vorstellung, dass Philosophie der Lebensbewältigung diene und wie ein Rezept aus der Apotheke anzuwenden sei.

Adorno bekämpfte mit seiner Kritischen Theorie vor allem systematische Philosophiegebäude wie den Deutschen Idealismus und den Positivismus. So polemisierte er gegen die „idealistischen Rauschebärte“ und gegen die „quietschvergnügten Positivisten“. Adorno ging von einem Philosophieren aus, das sich im Widerstand gegen alle systematischen Theorien bewegt, und empfahl eine radikale Subversion: Denken war seiner Auffassung nach „Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte“.

Mai 1968: der Schriftsteller Heinrich Böll (ganz links), Theodor W. Adorno und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld bei einer Veranstaltung in Frankfurt am Main

dpa/dpaweb/dpa/Manfred Rehm

Mai 1968: Der Schriftsteller Heinrich Böll (ganz links), Theodor W. Adorno und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld bei einer Veranstaltung in Frankfurt am Main

Repressionscharakter der Rationalität

Adornos Schriften zeichnen sich durch eine hermetische Schreibweise aus; sie verweigern sich der „Kulturindustrie“ - so ein Begriff von Adorno und seinem Kollegen Max Horkheimer - mit der Absicht, das leicht Konsumierbare zu ächten. In seinem umfassenden Werk beklagte der neomarxistische Paradeintellektuelle „das beschädigte Leben“ des Individuums, das von der spätkapitalistischen Industriegesellschaft auf dem Altar der Profitmaximierung geopfert wird. Für Adorno war diese Gesellschaftsform das „ganz Falsche“, gleichsam die „Hölle menschlicher Existenz“; ein Totalschaden, der das Individuum zum „Lurch“ degradiert.

1947 erschien „Dialektik der Aufklärung“, an dem Adorno gemeinsam mit Horkheimer mehrere Jahre gearbeitet hatte. Darin beschreiben sie den Repressionscharakter der Rationalität. Die instrumentelle Vernunft, die versucht, optimale, rationale Lösungen für alle anstehenden Probleme zu finden, unterdrückt die Sinnlichkeit des Menschen, seine Emotionen und sein Triebpotenzial.

Neigung zu Fantastischem und Liebe zu Tieren

Adorno – „der Kassandrarufer vom Dienst“, wie ihn der Philosoph Odo Marquard nannte – wies aber auch Facetten auf, die wenig bekannt sind. Burgschauspielerin Lotte Tobisch, die mit Adorno persönlich gut bekannt war, erläutert sie in einem Gespräch mit science.ORF.at: „Teddie“, so nannte sie ihn vertraulich, „konnte mich echt rühren; wenn er mir über einen Vortrag in Paris schreibt, dass die Zuhörer ganz begeistert waren, wie gut ich Französisch spreche. An solchen Komplimenten hatte er große Freude und er konnte über belanglose Dinge vor Glück strahlen.“

Ö1-Sendungshinweis

„Vom Leben im ganz Falschen“: Zum 50. Todestag des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno, „Salzburger Nachtstudio“, 7.8., 21.00 Uhr

Dazu passte Adornos Vorliebe für Irrationales. „Er hatte einen großen Zugang zu Fantastischem, Märchenhaftem, was man nicht glaubt. Es war dies eine Art Fenster, wo es Zwerge und Trolle gibt.“ Lotte Tobisch berichtet auch von Adornos großer Tierliebe: „Ich hatte einen riesigen Boxer mit dem Namen Dagobert, der das gutmütigste Tier war, das es gab. Bekanntlich sabbern Boxer, und Dagobert hat Teddie angesabbert; der Hund hat ihm die Schuhbänder ausgerissen. Teddie hat sich alles gefallen lassen. Er hat Tiere wirklich gemocht.“

Lotte Tobisch mit Boxer Dagobert

Adorno/Tobisch, Der private Briefwechsel, Droschl 2003

Lotte Tobisch mit Boxer Dagobert

Subversiver Charakter der Kunst

1966 publizierte Adorno sein philosophisches Hauptwerk „Negative Dialektik“, an dem er rund sieben Jahre gearbeitet hatte. Darin entfaltete er eine Dialektik, die den Widerspruch als solchen belässt, ohne den Begriff der Versöhnung zu bemühen. Er wandte sich gegen eine affirmative Dialektik, die in der europäischen Philosophie - von Platon bis Hegel - bestimmend war.

Links zu Adornos 50. Todestag

Das Verdienst von Hegels Dialektik bestehe darin, meinte Adorno, einer bestimmten These eine Antithese gegenüberzustellen. Verhängnisvoll sei jedoch Hegels Bemühen um eine Synthese. Negative Dialektik meine die Auflösung positiver Wahrheiten. Dadurch entstehe die Möglichkeit, die deformierten Lebensverhältnisse der deformierten „verwalteten Welt“ kritisch zu beleuchten – mit der Absicht, Potenziale eines nicht entfremdeten Daseins aufzuspüren.

Ein weiteres wichtiges philosophisches Werk, die „Ästhetische Theorie“, begann Adorno im Oktober 1966 zu schreiben, es blieb aber ein umfangreiches Fragment. In diesem Buch betonte Adorno ausdrücklich den subversiven Charakter der Kunst, die sich gegen die Vereinnahmung durch die Kulturindustrie wehren solle. Den Inbegriff der literarischen Subversion verkörperten für ihn Samuel Beckett und Paul Celan. Gestalten aus Becketts Dramen wie Lucky, Pozzo und Ham interpretierte Adorno als deformierte Menschen der verwalteten Welt, die nur noch als „Lurche“ und „Stümpfe“ existieren, die ihr Ich verloren haben.

Vortrag zu Rechtsradikalismus 1967 in Wien

Die Arbeit an philosophischen und ästhetischen Werken hielt Adorno nicht davon ab, sich zu politischen Themen zu äußern. Sein besonderes Anliegen bestand darin, vor dem aufkommenden Rechtsradikalismus zu warnen. Am 6. April 1967 hielt Adorno auf Einladung des Verbandes Sozialistischer Studenten Österreichs einen Vortrag an der Universität Wien mit dem Titel „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“. Er ist nicht nur von historischem Interesse. Vielmehr überraschen die hellsichtigen Analysen und Prognosen von Adorno, die von besonderer Aktualität sind.

In dem Vortrag nimmt Adorno keine kohärente Deutung des Rechtsradikalismus vor, sondern beschreibt einige Aspekte von faschistischen Bewegungen, die er mit Wahnsystemen vergleicht, die mit rationalen Mitteln nicht mehr korrigiert werden können. Er bezieht sich auch auf seine „Studien zum autoritären Charakter“, in denen er eine Analyse dieses Charaktertypus vornahm. Und er konstatiert, dass die „gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen“. Dafür machte er „die Konzentrationstendenz des Kapitals“ verantwortlich, die die demokratische Verfassung der Gesellschaft zu einer formalen Angelegenheit degradiere.

Soziologentagung in Heidelberg 1964: Horkheimer und Adorno im Vordergrund, Habers streicht sich im Hintergrund durchs Haar.

CC BY-SA 3.0 - Jjshapiro

Soziologentagung in Heidelberg 1964: Horkheimer und Adorno im Vordergrund, dahinter fährt sich Jürgen Habermas durchs Haar

Untergangsfantasien der Faschisten

„Die faschistischen Bewegungen könnte man in diesem Sinn als die Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute nicht voll gerecht wird.“ Der Ausgangspunkt des Vortrags ist Adornos Beobachtung, dass die Anhänger des Rechtsradikalismus quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind. Es sind Menschen, die das Gefühl haben, dass ihnen eine soziale Deklassierung droht.

„Wer nichts vor sich sieht, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als wie der Richard Wagner’sche Wotan zu sagen: ‚Weißt du, was Wotan will? Das Ende‘“, schreibt Adorno. Und weiter: „Er will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus den Untergang, nur eben nicht den Untergang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang des Ganzen.“

Wutbürger in der Kultur

Es folgt die Warnung, dass man diese Bewegungen nicht wegen ihres niedrigen geistigen Niveaus unterschätzen solle. Vielmehr verfügten diese Gruppen über außergewöhnliche Propagandamittel. Der intensive Einsatz dieser Mittel diene dazu, die für den Rechtsradikalismus empfänglichen Menschen emotional aufzuputschen, wie das in jüngster Vergangenheit in Deutschland und in den Vereinigten Staaten – Stichwort „Wutbürger“- erfolgt ist.

„Und diese Wut dürfte dann besonders in dem sich austoben, was man so mit kulturellem Sektor zu bezeichnen pflegt. Ich würde deshalb sagen (…), dass die Symptome der Kulturreaktion mit besonderer Wachsamkeit beobachtet werden müssen, weil das der Bereich ist, in dem sie am meisten sich austoben können.“

Am Schluss des Vortrages antwortete Adorno auf die selbst gestellte Frage, wie er über die Zukunft des Rechtsradikalismus denke: „Ich halte diese Frage für falsch, denn sie ist viel zu kontemplativ. In dieser Art des Denkens (…) steckt bereits eine Art Resignation drin, durch die man sich als politisches Subjekt eigentlich ausschaltet. Es steckt darin ein schlecht zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie diese Dinge weitergehen, das ist in letzter Instanz an uns.“

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft

Literaturhinweise

Die 20-bändige Ausgabe der Werke Adornos ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Suhrkamp.
Theodor W. Adorno/Lotte Tobisch: Der private Briefwechsel. Literaturverlag Droschl.

Weiterführende Literatur

Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Fischer Taschenbuch.
Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm: Adorno Handbuch, Leben-Werk-Wirkung. J. B. Metzler.
Burkhardt Lindner/Martin Lüdke: Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne. Suhrkamp taschenbuch Wissenschaft, Band 122.
Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie. Suhrkamp.
Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno. Junius.
Lotte Tobisch: Auf den Punkt gebracht. Amalthea.