Wie man den Urknall sehen könnte

Mit dem Nachweis von Gravitationswellen gelang Rainer Weiss eine Jahrhundertentdeckung. Im ORF-Interview erzählt der Physik-Nobelpreisträger von seiner großen Vision: einer Maschine, mit der man bis zum Urknall blicken könnte.

science.ORF.at: Herr Weiss, Sie haben im Jahr 1972 den ersten Gravitationswellendetektor gebaut. Bis zum Nachweis dieser unfassbar kleinen Dehnungen und Stauchungen der Raumzeit mussten Sie dann 43 Jahre warten – wie haben Sie sich während dieser langen Zeit Ihren Optimismus erhalten?

Rainer Weiss: Ich weiß sehr gut, was Sie meinen, aber so denken die meisten Wissenschaftler nicht. Ich jedenfalls habe lange Zeit keinen Gedanken daran verschwendet, ob uns der Nachweis einmal gelingen würde oder nicht. Man hat nicht an das Ende der Entwicklung im Auge, sondern die Freude an der täglichen Arbeit. In meinem Fall war es so: Ich wollte einen Interferometer bauen. Und in der täglichen Arbeit mit meinen Studenten und Kollegen gab es ein reales physikalisches Problem, wir sagten uns: Wir wollen das Instrument verdammt nochmal empfindlicher machen, noch viel empfindlicher als es jetzt ist! Man tauscht einen Bauteil aus und erkennt, dass das Gerät dadurch doppelt so gut arbeitet. Verbesserungen gab es jede Woche - das war die Quelle der Freude, das war es, was uns als Team zusammengehalten hat. Niemand von uns sagte: Oh mein Gott, wir habe noch immer keine Gravitationswellen nachgewiesen, was für ein Desaster! Daran denkt man nicht einmal. Es geht immer um die Frage: Was ist das nächste Problem, an dem wir arbeiten können? Das ist vermutlich nicht die Antwort, die Sie hören wollten.

Keineswegs, es ist auch eine schöne Antwort.

Es ist die einzig mögliche. Das ist das Leben!

Sie arbeiten also wie ein Gärtner, der jeden Tag die Pflanzen hegt – und nach ein paar Jahrzehnten stellt sich heraus: Da ist ein großer Baum gewachsen. Und er trägt Früchte.

Ich mag diese Analogie, der Baum ist nur ein Nebeneffekt. Natürlich muss ich zugeben: Wenn man sich ein wissenschaftliches Problem aussucht, dann sollte das Endresultat schon interessant sein. Insofern denkt man auch ein bisschen an die Zukunft. Es gibt allerdings auch einen anderen Grund, warum ich mich für dieses Problem entschieden habe. Es hat mit einer Liebesaffäre und Einstein zu tun.

US-Physiker Rainer Weiss

ASSOCIATED PRESS

Pioniertaten: Rainer Weiss hat mit seinen Forschungen den Nachweis von Gravitationswellen möglich gemacht.

Das müssen Sie genauer erzählen.

Eine komplizierte Geschichte. Also, es war so: Als ich noch jung war, lernte ich eine faszinierende Frau kennen, durch die ich mich für alle möglichen Dinge zu interessieren begann. Die Folge war, dass ich mein Studium vernachlässigte und vom Institut flog, das war 1953 …

… von welchem Institut sind Sie geflogen?

Vom MIT. Die Beziehung ging in die Brüche, ich machte eine schwierige Phase durch – ok, lassen wir es dabei bewenden, jedenfalls nahm ich damals einen Job in einem Labor an, in dem Atomuhren hergestellt wurden. Diese paar Jahre waren prägend, vielleicht sogar die entscheidenden meines Lebens: Denn ich begann über Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie nachzudenken und über die Effekte, die von ihr vorhergesagt werden. Wenn man beispielsweise zwei Atomuhren hat – eine auf einem Berggipfel und die andere in einem Tal, dann sollte die Uhr im Tal laut Theorie ein kleines bisschen langsamer ticken als die auf dem Gipfel. Ich dachte mir: Was für ein großartiges Problem, das wäre doch ein Effekt, den man durch Präzisionsmessungen nachweisen könnte! So entdeckte ich meine Liebe zu Einstein. So hat alles begonnen.

Sprechen wir kurz über das Ende der Geschichte: Am 14. September 2015 registrierten die Messinstrumente von LIGO erstmals Gravitationswellen. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Ich war zu dieser Zeit mit meiner Frau auf Urlaub in Maine, wir hatten ein Haus am Meer gemietet, als ich plötzlich auf meinem Laptop die Nachricht las: Die Überarbeitung der Instrumente, wir nennen das „Fix-It Day“, wurde gestoppt. Und zwar an beiden LIGO-Standorten gleichzeitig. Ich dachte mir: Wow, was ist da los? Kurz darauf erhielt ich eine Email mit dem Hinweis auf ein mögliches Signal von Schwarzen Löchern, das die Instrumente an beiden Standorten eingefangen hatten. Es war viel größer als erwartet. Daher vermutete ich zuerst – ebenso wie viele meiner Kollegen: Das kann nicht echt sein. Dazu muss man wissen, dass immer wieder künstliche Signale ins System eingespeist werden, um die Maschine und auch die Wissenschaftler zu testen. Wenn so eine „Blind Injection“ passiert, wissen bloß zwei Leute Bescheid – aber die hatten gar nichts dergleichen veranlasst, wie sich herausstellte.

Also dachten wir als nächstes: Vielleicht wurden wir gehackt? Wir waren in großer Sorge, einen Fehler zu begehen. Das letzte, was man in so einer Situation will, ist eine Entdeckung, die sich im Nachhinein als falsch herausstellt. So wurden Teams zusammengestellt, die alle Teile des Systems überprüften, zuerst den Datenspeicher, dann die Elektronik und so weiter. Und weil wir nichts entdecken konnten, was auf einen Eingriff von Außen hinwies, wurden die Hacker in unserer Vorstellung immer gerissener. Bis wir das Signal zu den Fotodetektoren zurückverfolgt hatten. Dann waren wir sicher, dass das Signal echt war. Um ehrlich zu sein: Selbst zu diesem Zeitpunkt gab es immer noch leise Zweifel. Doch drei Monate später, am 26. Dezember, registrierten die Instrumente erneut Gravitationswellen von zwei Schwarzen Löchern. Erst dann begannen wir unser Paper zu schreiben.

Big Bang: Künstlerische Darstellung des Urknalls

NASA's Goddard Space Flight Center/CI Lab

Werden Physiker Gravitationswellen des Urknalls messen können? Rainer Weiss hält das für möglich.

Im Februar 2016 fand die mittlerweile legendäre Pressekonferenz statt, bei der die Entdeckung vorgestellt wurde, im Jahr darauf folgte der Nobelpreis für Sie und Ihre Kollegen Barry Barish und Kip Thorne. Was hat sich seitdem getan?

Wir haben seitdem einige Fortschritte gemacht. Erstens, weil es nun neben den zwei LIGO-Detektoren einen dritten gibt, nämlich Virgo in Italien. Damit können wir nun viel genauer bestimmen, von wo die Gravitationswellen aus dem All kommen – und alle möglichen Teleskope auf die Quelle richten, das ist eine völlig neue Art von Wissenschaft: die Multi-Messenger-Astronomie. Zweitens hat sich auch die Empfindlichkeit der Instrumente verbessert. Vor ein paar Jahren sahen wir noch ein Signal pro Monat, heute sehen wir eines alle anderthalb Wochen.

Wie weit lässt sich das noch ausreizen?

Wenn man die Empfindlichkeit um den Faktor zwei verbessert, sieht man doppelt so weit in den Raum. Das heißt, das abgedeckte Volumen wächst um das Achtfache. Daran arbeiten wir gerade – Mitte der 2020er Jahre werden wir alle ein oder zwei Tage ein Gravitationswellen-Signal von Schwarzen Löchern oder Neutronensternen bekommen. Und es kommen neue Detektoren hinzu: Einer wird derzeit in Japan gebaut, ein anderer in Indien.

Und in den USA?

Wir wollen langfristig einen noch größeren Interferometer bauen, zehn Mal so groß. Das wäre dann eine Länge von 40 Kilometern. Damit würden wir an einen Punkt kommen, wo wir jedes Schwarze Loch im Universum sehen könnten.

Ein Blick in die Zukunft: Was kommt da noch alles auf uns zu?

Wir können mit Hilfe von Gravitationswellen direkt in einen explodierenden Stern schauen, um zu sehen, was da passiert. Im Prinzip könnten wir auf diese Weise so weit ins All blicken, bis wir beim Urknall ankommen. Nachdem Gravitationswellen durch nichts im Universum aufgehalten werden, erwarte ich, dass wir noch Sachen sehen werden, die wir uns heute noch nicht einmal vorstellen können. Vielleicht sehen wir Wurmlöcher, vielleicht kosmische Strings, weiß Gott, was da noch alles möglich ist.

Wie empfindlich müsste die Maschine sein, um damit bis zum Urknall schauen zu können?

Die nächste Generation von LIGO wird dazu nicht fähig sein. Auch noch nicht LISA, der Gravitationswellendetektor im All, den die Europäer nun bauen wollen. Wenn man beide Ansätze kombiniert, sieht es allerdings anders aus. LISA soll aus drei Satelliten mit einem Abstand von ein paar Millionen Kilometern bestehen. Wenn wir die Technologie, die wir gegenwärtig am Boden zur Verfügung haben, auch im Weltraum verwenden: Dann haben wir eine Chance.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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