Eigener Beitrag wird überschätzt

Der Zweite Weltkrieg hat vor 80 Jahren begonnen, die beteiligten Länder erinnern sich daran heute zum Teil sehr unterschiedlich. Nur in einem sind sie sich einig: Alle überschätzen den Beitrag des eigenen Landes, wie eine neue Studie zeigt.

„Das gilt sowohl für die siegreichen Alliierten als auch für die Achsenmächte“, erklärt die Studienautorin Magdalena Abel gegenüber science.ORF.at. „Durch eine kognitive Verzerrung wird der Beitrag der eigenen Gruppe systematisch überschätzt“, so die Psychologin von der Universität Regensburg.

Studie

„Competing national memories of World War II“, PNAS, 12.8.2019

Ö1-Sendungshinweis

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Mit Ausnahme Russlands wird hingegen heute überall die Rolle der Sowjetunion unterschätzt. „Ihr Anteil an der Zerschlagung von Nationalsozialismus und Faschismus war viel höher als heute oft angenommen“, sagt die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die nicht an der Studie beteiligt war. „Die Studie zeigt das drastisch und zum ersten Mal quantitativ.“

309 Prozent Verantwortung für den Sieg

Die Psychologin Abel und Kollegen haben das Phänomen international untersucht. Das Team entwickelte einen Onlinefragebogen, den über 1.300 Männer und Frauen aus elf Ländern beantworteten. Die Teilnehmer von acht ehemaligen Alliierten (Sowjetunion, USA, Großbritannien, Frankreich, China, Kanada, Neuseeland und Australien) sollten dabei angeben, zu welchem Prozentsatz das eigene Land für den Sieg im Zweiten Weltkrieg verantwortlich war. Die erstaunliche Summe der Antworten: 309 Prozent. Mit anderen Worten: Die Menschen haben den Beitrag der eigenen Nation zum Kriegsgewinn im Schnitt dreifach überschätzt.

Bei den Verlierernationen – Deutschland, Japan und Italien – zeigte sich ein ähnliches Bild. Obwohl nur drei Länder, betrug die Summe 140 Prozent. „In diesen Ländern haben wir allerdings allgemein nach dem ‚Beitrag zur Kriegsanstrengung der Achsenmächte‘ gefragt, und nicht nach dem ‚Beitrag zur Niederlage‘. Wir wollten das positiv formulieren“, so Abel.

Bereitstellung starker deutscher Panzerverbände vor einem Angriff während des Feldzuges gegen Polen im September 1939

ORF/Mauritius Images/SZ Photo/Scherl

Deutsche Panzerverbände vor einem Angriff während des Feldzuges gegen Polen im September 1939

Selbstüberschätzung überall

Die Tendenz zur Selbstüberschätzung gibt es in allen Ländern, sie ist aber unterschiedlich ausgeprägt. Den größten Anteil am Sieg im Zweiten Weltkrieg schreibt sich heute Russland zu, das die Psychologen für ihre Studie als Nachfolger der Sowjetunion verwendeten. Die Russen und Russinnen gehen laut der Studie heute davon aus, dass ihr Land für 75 Prozent des Kriegsgewinns verantwortlich war. Spitzenwerte erreichen auch die USA und Großbritannien mit knapp über 50 Prozent. Chinesen und Chinesinnen reklamieren über ein Drittel des Siegs für sich, in Neuseeland sind es noch immer 14 Prozent.

Studie nicht repräsentativ, aber stichhaltig

Die aktuelle Studie ist nicht repräsentativ, die Probanden wurden über das eigene Umfeld an verschiedenen Universitäten rekrutiert. Dennoch sind die Ergebnisse stichhaltig, ist Abel überzeugt. „Die höher Gebildeten, die an unserer Studie teilnahmen, sind in Sachen nationaler Narzissmus noch eher zurückhaltend. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Resultate bei der Gesamtbevölkerung noch deutlicher ausgefallen wären.“

Woher diese Tendenz zum nationalen Narzissmus kommt? Abel erklärt ihn mit dem schönen psychologischen Begriff der „Verfügbarkeitsheuristik“. Gemeint ist damit schlicht, dass über den eigenen Bereich oder die eigene Gruppe mehr Information zur Verfügung steht. „Wenn man Ehepartner befragt, wer wie viel zur Hausarbeit beiträgt, und die Prozente addiert, kommt man auch immer auf über 100 Prozent. Ganz einfach, weil man sich an die eigenen Arbeiten besser erinnert als an die des anderen“, so Abel. Ähnlich verhalte es sich auch mit dem Beitrag zum Gewinn des Zweiten Weltkriegs.

Beitrag Russlands wird unterschätzt

Die Selbsteinschätzungen der Nationen stehen zum Teil in strengem Kontrast zur Einschätzung der anderen. Fragten die Psychologen nämlich nach dem prozentuellen Beitrag zum Kriegsgewinn aller acht Alliierten und berechneten daraus die Durchschnittswerte, zeigte sich ein ganz anderes Bild. Die USA gelten demnach als hauptverantwortlich, ihnen werden rund 30 Prozent des Siegs zugeschrieben, der Sowjetunion nur 20 Prozent, Großbritannien 19 Prozent und China gar nur drei Prozent.

Auch wenn diese Zahlen „realistischer“ erscheinen, heißt das nicht, dass sie den tatsächlichen Kriegsbeitrag abbilden. Doch wie misst man diesen objektiv? Die Forscherinnen um Abel haben sich für eine „harte Währung“ entschieden: die Anzahl aller im Zweiten Weltkrieg getöteten Soldaten. Insgesamt waren es bei den acht Alliierten 14,5 Millionen, fast zehn Millionen davon stammten aus der Sowjetunion. Das sind fast zwei Drittel, und dieser Wert liegt gar nicht so weit weg von den 75 Prozent, die man in Russland für das eigene Land reklamiert. „Diese Einschätzung ist realistischer als die anderen“, kommentiert die Zeithistorikerin Uhl.

Russischer Soldat in Leningrad 1943

ORF

Russische Soldaten in Leningrad 1943

Populärkultur prägt das Bild

Die USA hingegen hatten „nur“ etwas mehr als 400.000 tote Soldaten zu beklagen, das sind ein paar Prozent der Gesamtopferzahl. Hier ist die Diskrepanz zur Selbsteinschätzung des Kriegsbeitrags (50 Prozent) und sogar zur Fremdeinschätzung (30 Prozent) frappierend. Warum? „Das hat viel mit der Erziehung zu tun, aber auch mit der Populärkultur. Es gibt einfach viel mehr Hollywood-Filme, die den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der USA erzählen“, so Abel.

ORF-Schwerpunkt

Der ORF begleitet den 80. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in TV, Radio und online.

Dem stimmt die Historikerin Uhl zu. „US-Filme prägen unser Bild vom Zweiten Weltkrieg stark mit.“ Warum aber die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg heute derart unterschätzt wird? Auch das hat mit Populärkultur zu tun, Kriegsfilme aus Russland sind im restlichen Europa eher keine Renner. Auch das populärkulturelle Interesse an der Ostfront ist im Westen relativ überschaubar.

Uhl hat aber auch andere Erklärungen: „In Ländern wie Österreich oder Deutschland galt die Sowjetunion sowieso jahrzehntelang als Feindbild. Nach 1989, mit dem Zerfall der kommunistischen Staatenwelt sind dann auch die Heroengeschichten und Leistungen der Roten Armee in Osteuropa zerfallen.“ Hochgehalten wird die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ aber umso mehr in Russland selbst, diese Erinnerung sei in Putin-Zeiten aber auch mit Lücken behaftet.

Allierte Landung in der Normandie 1944

ORF/National Archives and Records Administration/Robert F. Sargent

Filmische Ikone: Landung der Alliierten in der Normandie 1944

Ambivalente Zukunftsaussicht

Generell sieht Uhl mit der aktuellen Studie bestätigt, wie stark national und eurozentrisch der Blick auf die Vergangenheit noch immer geprägt ist. „Über den Krieg im Pazifik etwa weiß man wenig, für uns ist das Kriegsende der 8. Mai 1945, dabei ging er im Pazifik ja noch weiter“, so die Historikerin. Auch in der Wissenschaft gebe es erst Ansätze zu einer globalen Geschichtsschreibung.

Wie entwickeln sich die Erinnerungskulturen weiter? Uhl sieht zwei ambivalente Tendenzen. Zum einen eine Europäisierung der Erinnerung, die sich etwa darin ausdrückt, dass Großbritannien, Frankreich und Deutschland seit vielen Jahren gemeinsam an den Krieg erinnern. „Es hat aber 40 Jahre gedauert, bis ein deutscher Bundespräsident – es war Richard von Weizsäcker 1985 – den Satz gesagt hat: ‚Wir Deutsche wurden 1945 von einem verbrecherischen Regime befreit.‘“

Zum anderen wird die Erinnerung auch wieder renationalisiert, etwa in den postkommunistischen Ländern wie Polen und den baltischen Staaten, die ihre ehemaligen Soldaten nicht mehr als Rotarmisten ansehen, sondern als Litauer, Esten und Letten. „In diesen Ländern spielt die Erinnerung an die Unterdrückung im Stalinismus natürlich eine große Rolle“, so Uhl.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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