Studie: Es gibt kein „Schwulen-Gen“

Welche Rolle spielen die Gene bei Homosexualität? Eine Studie an 480.000 Männern und Frauen liefert Antworten: Die sexuelle Orientierung wird auch vom Erbgut beeinflusst – doch das oftmals kolportierte „Schwulen-Gen“ gibt es nicht.

Mit ihrer Studie, heute veröffentlicht im Fachblatt „Science“, betreten die Forscher um Andrea Ganna ein weltanschauliches Minenfeld. Denn Homosexualität ist in 70 Staaten immer noch illegal und selbst in Ländern, wo die Rechte von Schwulen und Lesben bereits gesellschaftlicher Konsens sind, scheinen Stereotypen, Vorurteile und Kontaktängste längst nicht überwunden.

Und dann schwingt da noch die alte – und ebenfalls von ideologischen Grabenkämpfen begleitete – Nature-Nurture-Debatte mit. Ein Thema, über das sich bis heute trefflich streiten lässt: Welches Gewicht haben Anlage und Umwelt in der Entwicklung des Menschen? Was ist milieubedingt, was im Erbgut festgeschrieben?

Genetischer Effekt gering

In Bezug auf die Augenfarbe oder die Körpergröße sind solche Fragen noch relativ einfach zu beantworten. Was die sexuelle Orientierung betrifft, ist es deutlich komplizierter. Daran ändert auch die Untersuchung von Ganna nichts, aber sie stellt die Kompliziertheit nun erstmals auf eine solide Datenbasis: Bei knapp einer halben Million Menschen aus den USA und Großbritannien hat der italienische Molekularbiologe nun nach Zusammenhängen zwischen Genetik und Homosexualität gesucht – und wurde fündig: Ganna und sein Team entdeckten im Erbgut der Probanden fünf Gensequenzen (sogenannte SNPs), die mit der sexuellen Orientierung in Zusammenhang stehen.

Pride Parade: Demonstranten halten Liebes-Piktogramme in die Luft

GIUSEPPE CACACE / AFP

Die genetischen Daten der Studie stammen aus der UK Biobank sowie vom US-Unternehmen 23andMe

Zwei betreffen beide Geschlechter, die anderen kommen entweder nur bei Männern oder nur bei Frauen vor. Doch ihr Effekt ist winzig, schreibt Ganna in „Science“. Summiert man alle fünf, dann erklären sie bloß zu einem Prozent, warum sich Männer oder Frauen vom eigenen Geschlecht angezogen fühlen. Eine Vorhersage, ob jemand schwul, lesbisch oder hetero ist, lässt sich aus diesen Daten also nicht ableiten. Oder anders ausgedrückt: Das „Gay Gene“, die eine determinierende Sequenz – sie existiert schlichtweg nicht.

Quer übers gesamte Erbgut gerechnet, können die Gene (mit kleinen und kleinsten Effekten) laut Studie maximal acht bis 25 Prozent der sexuellen Orientierung erklären. Woraus im Übrigen nicht folgt, dass der ganze Rest aufs Konto des Milieus gehen würde. Nachdem etwa auch Hormone oder Immunreaktionen im Mutterbauch eine Rolle spielen, kann die sexuelle Orientierung durchaus angeboren sein, ohne notwendigerweise in den Genen festgeschrieben zu sein. Wie gesagt: Es bleibt kompliziert.

Homo, Hetero – und vieles dazwischen

Bemerkenswert an der Studie, betonte Ganna bei einer Pressekonferenz, seien zwei Ergebnisse. "Erstens, dass sich die genetische Basis für Homosexualität bei Männern und Frauen relativ stark unterscheidet.“ Und zweitens: „Interessanterweise gibt es auch keine Gensequenzen, die zwischen homo- und heterosexuellem Verhalten überleiten.“

Diese Feststellung weist auf eine Feinheit der Untersuchung hin. Die Wissenschaftler hatten nämlich Fragebögen ausgewertet, in denen die Probanden bzw. Probandinnen ihr Liebesleben selbst einordnen konnten, von „ausschließlich heterosexuell“ über Zwischenstufen wie „gelegentlich homosexuell“ bis „ausschließlich homosexuell“. Gensequenzen, die mit diesen Kategorien in Zusammenhang stehen, ließen sich zwar finden, so Ganna. Nur seien das eben unterschiedliche. Die Genetik der Homosexualität ist offenbar ein Fleckerlteppich.

Melinda Mills versucht in einem Kommentar zur Studie eine gesellschaftliche Interpretation: Wenn die Genetik des Sexualverhaltens keine einheitliche Architektur hat, so die Demographin von der University of Oxford, dann spreche das gegen starre Kategorisierungsversuche, wie sie einst der Sexualforscher Alfred Kinsey in den späten 1940er-Jahren versucht hat. Und eher für die Stimmen aus der LGBTQ-Gemeinde jüngerer Zeit, denen zufolge man ohnehin besser von Sexualität(en) im Plural sprechen sollte.

Anekdoten bei der Pressekonferenz

Ausreichend Deutungsspielraum sehen nicht zuletzt auch die Studienautoren. Manche der entdeckten DNA-Sequenzen stehen mit dem Geruchssinn in Verbindung, andere mit der Östrogen- oder Testosteronproduktion. Wie diese Sequenzen in das Sexualverhalten eingreifen, können die Forscher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen.

Bei der Pressekonferenz der Zeitschrift „Science“ ging es nicht nur um Signalwege und molekulare Details. Studienkoautor Fah Sathirapongsasuti bekannte, das Thema sei für ihn als schwulen Mann auch eine „persönliche Angelegenheit“, und erzählte von seinen Teenagerjahren, als er seine Sexualität zu verstehen versuchte. Damals hatten Studien Hinweise erbracht, dass es auf dem X-Chromosom ein „Schwulen-Gen“ namens Xq28 geben könnte. Als Sathirapongsasuti das erstmals im Internet las, sagte er zu seiner Mutter: „Du hast mir das vererbt.“ Nun korrigiert er sich: „Es waren beide, Mum und Dad.“ Auf dem X-Chromosom wurden die Forscher nämlich nicht fündig.

Robert Czepel, science.ORF.at

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