WHO: Gesundheitsgefälle kostet Milliarden

Gesundheit ist in Europa immer noch an Wohlstand gekoppelt, das zeigt ein heute veröffentlichter Bericht der WHO. Den Schaden trägt die gesamte Gesellschaft. Die Studienautoren sprechen von einem Milliardenverlust.

Im Schnitt liegt die Lebenserwartung in Europa für Frauen bei 82 Jahren, Männer werden durchschnittlich 76 Jahre alt. Gehört man zu den am stärksten sozial benachteiligten Gruppen mit schlechter Bildung, verkürzt sich die Lebenserwartung bei Frauen um bis zu sieben, bei Männern sogar um bis zu 15 Jahre. Das betrifft vor allem Länder wie Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen, erklärt eine der Studienautorinnen Christine Brown von der Weltgesundheitsorganisation WHO. „Das ist wirklich ein Gerechtigkeitsproblem. Viele, die jung sterben, haben gearbeitet und in das System eingezahlt. Sie erhalten aber die Leistungen nicht, in die sie investiert haben.“

Ö1-Sendungshinweis

Diesem Thema widmete sich das Journal um acht sowie die Nachrichten am 11.9.

Die Studie

The European Health Equity Status Report, WHO, 10.9.2019

Auch in Österreich wird die Lebenserwartung durch Faktoren wie beispielsweise dem Wohnort beeinflusst. Demnach lebt man hierzulande statistisch gesehen um zwei Jahre kürzer, wenn man in einem schlecht entwickelten Wohnviertel lebt. Dieser Wert ist in den letzten zehn Jahren etwas angestiegen, warnt Brown. Dabei zeigt sich auch, dass gut die Hälfte der untersuchten Länder in Europa in den letzten Jahren weniger in den Wohnungsbau und Gemeinschaftshilfe investiert haben. Hier etwa Länder wie Spanien, Irland, Deutschland und Großbritannien.

Mehr Krankheiten bei den Wenigverdienern

Jenes Fünftel der Bevölkerung, das am wenigsten verdient, ist außerdem stärker von Bluthochdruck, Herzkreislaufkrankheiten und Rückenproblemen betroffen als Menschen, die zu den Topverdienern zählen. „In Österreich sind im unteren Fünftel etwa um 15 Prozent mehr Menschen von Erkrankungen betroffen, die ihnen den Alltag erschweren. Europaweit sind es sogar doppelt so viele Menschen wie beim oberen Fünftel.“ Auch psychische Probleme betreffen eher die Wenigverdiener.

In diese Kategorie fallen auch immer mehr Menschen, die trotz Vollzeitjob nicht genug Geld für Miete, Heizen, Essen und Kino haben. „Wir sehen überall den Aufstieg der sogenannten ‚Working Poor‘. Diese sowie Menschen ohne Arbeit machen 35 Prozent des Gesundheitsgefälles in Europa aus.“ Sieben Prozent der Missverhältnisse geht wiederum auf die Kappe von prekären Arbeitsbedingungen – Arbeit ohne oder nur mit befristeten Verträgen oder schlechte Arbeitsbedingungen.

Arbeit, Lebensumstände, Bildung, Zugang zu Ärzten: All das beeinflusst nicht nur die Gesundheit des einzelnen, es hat auch Folgen für Freunde, Familie sowie die Gesellschaft. „Es wird für manche schwerer, zu arbeiten, für die Familie zu sorgen, Freunde zu treffen – das kann zu Armut und sozialer Ausgrenzung führen“, erklärt Brown.

Ungleichheit: Abwärtstrend in Österreich

Österreichs System ist zwar im europäischen Vergleich nach wie vor gut. Der Trend geht aber auch hier abwärts in Richtung einer größeren sozialen Ungleichheit. Die WHO-Studie zeigt nun konkrete Lösungsmaßnahmen für die Länder in Europa auf, und verweist auf Beispiele aus anderen Nationen. Demnach hilft es, ein Steuersystem zu haben, das die Einkommensschere schließt, in eine bessere Bildung zu investieren, dass mehr Menschen Arbeit haben und aktiv in die Gesellschaft eingebunden werden - das heißt etwa auch, Menschen in die Gestaltung ihrer Wohngegend miteinzubeziehen, so Brown. Mehrere Maßnahmen zusammengenommen können hier sogar innerhalb von vier Jahren eine positive Veränderung bringen. „Es ist also innerhalb einer Regierungsperiode machbar.“

Der konkrete Vorteil gleicher Gesundheitschancen für alle lässt sich laut WHO auch beziffern. Würde man das Missverhältnis in allen Ländern um die Hälfte reduzieren, würde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je nach Land zwischen 0.3 und 4.3 Prozent steigen. „4.3 Prozent entsprechen im konkreten Fall in einem Mitteleuropäischen Land 60 Milliarden Euro. Das ist sehr viel Geld und zeigt: Wir verlieren aktuell wichtiges Human- und Sozialkapital und wirtschaftliches Potenzial, wenn Menschen krank sind und nicht das erwartete Lebensalter erreichen.“

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

Mehr zu diesem Thema: