Wie Lesen das Gehirn verändert

Lesen verschafft nicht nur Zugang zu Inhalten, es verbessert auch die Wahrnehmung von Gesichtern, Gebäuden und anderen Objekten. Das zeigt eine neue Studie, die das Gehirn von Analphabeten, Leseanfängern und versierten Lesern verglichen hat.

Gemessen an der Menschheitsgeschichte sind Lesen und Schreiben recht junge Kulturtechniken. Die ältesten Schriftsysteme entstanden nach heutigen Kenntnissen vor nicht einmal 10.000 Jahren – zu wenig Zeit für anatomische Anpassungen. D.h., es gibt auch kein eigenes Areal im Gehirn, das als Lesezentrum vorgesehen ist.

Damit Leserinnen und Lesern am Ende aus aneinandergereihten Buchstaben oder anderen Zeichen mühelos Inhalte ablesen können, braucht es einiges an Übung. Bewerkstelligt wird das Kunststück letztlich mit Hilfe anderer Wahrnehmungsfähigkeiten bzw. den dafür zuständigen Gehirnregionen, etwa jener zur Erkennung von Gesichtern und anderen optischen Reizen. Die Verarbeitung von Schriftzeichen hat sich dort gewissermaßen draufgesetzt.

Konflikt um Ressourcen

Manche meinen, diese „Zweckentfremdung“ habe einen Preis bzw. führe zu einem Konflikt um geistige Ressourcen: Wenn Menschen lesen können, hätten sie dafür andere Wahrnehmungsdefizite. Belege dafür gibt es allerdings kaum. Ob es tatsächlich solche Interferenzen gibt, haben Forscher um Falk Huettig vom Max Planck Institut für Psycholinguistik in Nijmegen in einer Studie untersucht. Erst vor zwei Jahren hatte dasselbe Team bereits festgestellt, wie fundamental Lesen sogar das erwachsene Gehirn verändert.

Menschen in Nordindien lernen Lesen und Schreiben

Faulk Huettig

Der Lese- und Schreibkurs in Nordindien

Insgesamt 90 Probandinnen und Probanden aus einer entlegenen Region Nordindiens standen im Mittelpunkt der aktuellen Arbeit. Ein Drittel war zu Beginn nicht alphabetisiert und wurde sechs Monate lang in Lesen und Schreiben unterrichtet, in Devangari, der Standardschrift für Hindi. Die restlichen Teilnehmer waren zum einen Analphabetinnen und Analphabeten, zum anderen versierte Leserinnen und Leser. Während sie Sätze, Buchstaben und nicht orthographische Reize wie Gesichter lesen bzw. erkennen sollten, wurde die Gehirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie fMRI aufgezeichnet, um Unterschiede zwischen den Teilnehmern sowie die Veränderungen durch das Schrifttraining zu untersuchen.

Lesen schärft Wahrnehmung

Die Ergebnisse: Weder bei den erfahrenen noch bei den frisch geschulten Lesern waren die allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeiten – also die Erkennung von Gesichtern, Gebäuden und anderen Objekten – in irgendeiner Weise beeinträchtigt.

Interessanterweise war das Gehirn von Alphabetisierten bei Buchstaben wie Gesichtern recht ähnlich aktiviert, anders als bei ihren nicht des Lesens mächtigen Landsleuten. Und Leserinnen und Leser reagierten sogar stärker auf andere – nicht sprachliche – visuelle Reize als nicht alphabetisierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Lesen habe also sogar einen positiven Einfluss auf andere Wahrnehmungsfähigkeiten, betont Huettig in einer Aussendung. Auch in dieser Hinsicht sei es gut, lesen zu lernen: Man schärft damit den gesamten Wahrnehmungsapparat.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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