Tibetische Medizin als Wirtschaftsfaktor

Im Hochland von Tibet und der Mongolei praktizieren Ärzte eine etwas andere Medizin: „Sowa Rigpa“. Laut einem Medizinanthropologen ist die „Wissenschaft vom Heilen“ ein aufstrebender Wirtschaftsfaktor und findet ihren Weg auch in andere Regionen.

Stephan Kloos, der am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) arbeitet, hat mit vier Mitarbeitern mehrere Jahre lang im Zuge eines „Starting Grant“ des Europäischen Forschungsrats ERC in den tibetischen Gebieten Chinas, sowie Indien, der Mongolei, Bhutan, Nepal, und Sibirien Feldforschung über die dortige Wissenschaft vom Heilen betrieben. Diese umfasst die tibetische, mongolische und Himalaja-Medizin, sagte er.

"Wir haben die dortigen Spitäler und Universitäten besichtigt, und auch Vertreter der „Sowa Rigpa"-Industrie getroffen und deren Fabriken besucht“, erklärt Kloos. Solche Befragungen funktionieren nicht mit Fragebögen, wo man einzelne Punkte abhake, sondern in offenen Gesprächen, die viel Vorarbeit verlangen. „Man muss zuerst mit viel kulturellem Fingerspitzengefühl ein soziales Netzwerk aufbauen und sollte die betreffende Sprache, also Tibetisch oder Mongolisch beherrschen, um eine Vertrauensbasis zu bilden. Ohne dieser wäre der Zugang zu Informationen und Institutionen unmöglich oder nur sehr oberflächlich“, berichtet er. Es sei auch wichtig, diese Forschung und den Austausch mit Experten über einen längeren Zeitraum hinweg durchzuführen, um die Zusammenhänge verstehen zu können.

Natürliche Substanzen

Die „Wissenschaft vom Heilen“ funktioniert ähnlich der westlichen Schulmedizin mit Substanzen, die im menschlichen Körper eine bestimmte Wirkung zeigen, so der Forscher. Der Unterschied ist allerdings, dass diese Substanzen wie etwa Kräuter, speziell verarbeitete Mineralien, Metalle, oder Tierprodukte wie Milch oder Honig, ausschließlich natürlichen Ursprungs sind, und dass nie eine einzelne Substanz verabreicht wird, sondern stets Vielstoffgemische. „Laut der tibetischen Theorie hat jede Zutat neben ihrer Wirkung auch eine Nebenwirkung, und die negativen Effekte der Hauptzutat werden durch die Beimengung von anderen Kräutern oder ähnlichem ausgeglichen“, so der Forscher: „Es ist also nicht so, dass man wie bei uns zur Alternativmedizin sagt: wenn es nicht hilft, schadet es nicht“.

Einen Glauben an Wunderheilerei, spirituelle und religiöse Phänomene oder Ähnliches bedient man in der Tibetischen Medizin nicht, sagt Kloos. Dies würde auch vom Dalai Lama immer wieder betont. Auch die Ausbildung der Ärzte sei dort alles andere als ominös. "Es ist eine systematische Wissenschaft, die man mindestens fünf Jahre lang auf staatlich anerkannten Hochschulen studieren muss, dann ist ein Jahr Praxis zu absolvieren, bevor man ein Zertifikat und die Berechtigung zu praktizieren bekommt. Medikamente dürfen wiederum nur zugelassene Mediziner mit einer zusätzlichen Ausbildung herstellen.

„Sowa Rigpa“ ist in Tibet, Indien, Bhutan und der Mongolei auch ganz normal ins öffentliche Gesundheitssystem integriert, berichtet der Medizinanthropologe: „In vielen Regionen gehen mehr Leute zum tibetischen Arzt oder ins tibetische Spital, als ins westliche Krankenhaus“. Auch in den Großstädten Chinas und Indiens gäbe es „Sowa Rigpa“-Spitäler, -Kliniken und -Ärzte, die einen regelrechten Boom erleben. „Sowa Rigpa“ spielt daher eine wichtige Rolle für die öffentliche Gesundheit in jenen Ländern.

Millionenumsätze

Vor allem in China habe sich die Tibetische Medizin zum großen Wirtschaftszweig mit Millionenumsätzen gemausert, so Kloos. Seit 2000 sei ihr wirtschaftlicher Gesamtwert um mehr als das Zehnfache auf über 600 Millionen Euro gewachsen, wobei China mit 97 Prozent Anteil den Markt dominiert. Unter Mao Zedong habe man „Sowa Rigpa“ unterdrückt und viele Ärzte verschwanden in Arbeitslagern. Nach seinem Tod erholte sich die Tibetische Medizin aber langsam und beständig. „Letztlich war es sogar die chinesische Regierung, die durch massive Investitionen und staatliche Regulierungen die Tibetische Medizin vermarktet und gefördert hat“, sagte er. Neben wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gründen habe dies auch einen politischen Nutzen: „Sie können damit zeigen, dass sie die tibetische Kultur nicht unterdrücken, sondern sogar unterstützen“, meint Kloos.

Mit dem Wachstum der Tibetischen Medizin entwickelte sich auch eine moderne, innovative und in mehreren Staaten anerkannte und regulierte „Sowa Rigpa“-Pharmaindustrie, erklärte er. Diese beliefert tausende gut ausgestattete Kliniken, wo Tibetische Medizin exklusiv oder gemeinsam mit westlicher Medizin angeboten wird. Dies führte zu einem „Sowa Rigpa“-Boom, der Medizintouristen aus ganz Asien oft tausende Kilometer zu tibetischen und mongolischen Kliniken reisen lässt. „Die Patienten schätzen vor allem, dass sie kostengünstiger, individueller und ihrer Erfahrung nach oft auch wirksamer als die westliche Medizin ist“, sagt Kloos. In Europa sei diese Art der Medizin aber noch eine Randerscheinung, auch wenn hier der Markt mit pflanzlichen Arzneimitteln stark wächst.

Obwohl sich die Tibetische Medizin im Alltag offensichtlich bewährt und teils spektakuläre Heilerfolge zeigt, sei ihre Wirksamkeit mit wenigen Ausnahmen jedoch noch nicht einwandfrei wissenschaftlich nachgewiesen, so Kloos. Dies sei bei pflanzlichen Kombinationspräparaten mit mindestens drei und teils mehr als 100 Ingredienzien mit herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden äußerst aufwendig. „Es gibt zwar vermehrt Studien aus China und der Mongolei, doch diese genügen oft nicht internationalen wissenschaftlichen Standards“, meint Kloos.

science.ORF.at/APA

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