Wie man Sprachen vor dem Verschwinden rettet

Wenn Sprachen aussterben, geht oft auch eine ganze Kultur verloren. Um das endgültige Verschwinden bedrohter Sprachen zu verhindern, werden sie heute von Experten genau dokumentiert und in einem eigenen Archiv gesammelt.

Rund 7.000 Sprachen gibt es weltweit, 3.000 von ihnen gelten als bedroht, sagt Vera Ferreira, Linguistin und Spracharchivarin am Archiv für bedrohte Sprachen der SOAS University of London am Rande einer Veranstaltung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ob eine Sprache bedroht ist, hängt aber nicht unbedingt von der Zahl ihrer Sprecherinnen ab, meint sie. Vor allem in Afrika gebe es viele Sprachen, die von nur rund 500 Menschen gesprochen würden, aber trotzdem nicht bedroht seien.

Ein wichtiges Kriterium für den Status „bedroht“ sei die Lebendigkeit der Sprache, meint Vera Ferreira: „Beispielsweise, wenn die Sprache in der Familie nicht mehr weitergegeben wird. Eine solche Sprache wird in ein oder zwei Generationen bedroht sein“.

Von der Geheimsprache in den Alltag

Auch wenn eine Sprache nicht mehr in allen Lebensbereichen benutzt wird, sondern zum Beispiel im Berufsleben durch eine andere ersetzt wird, kann das gefährlich werden. Wie sich eine Sprache verbreiten und schließlich aussterben kann, zeigt Vera Ferreira am Beispiel des portugiesischen Minderico. Ursprünglich war das eine Geheimsprache, sie beinhaltet arabische und portugiesische Elemente und wurde zuerst von Händlern und Produzenten gesprochen, die in der Region Minde im Zentrum Portugals lebten und unter sich kommunizieren wollten.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell, 2.10.2019

Erste schriftliche Zeugnisse gibt es aus dem frühen 18. Jahrhundert, gesprochen wurde Minderico aber wohl schon erheblich früher, vermutet Vera Ferreira. „Die Sprache wurde von Textilhändlern und Textilproduzenten benutzt und dann ist sie langsam die Sprache der Gemeinde geworden“, erklärt sie. Auf ihrem Höhepunkt sprachen rund 8.000 Menschen Minderico, und zwar im Alltag wie im Beruf. Heute sind nur noch rund 150 aktive Sprecherinnen übrig. Viele sind abgewandert, andere geben das Minderico nicht mehr an die Kinder weiter.

Auch Bilder dokumentieren Sprache

Vera Ferreira dokumentiert die Sprache nun. Neben einem Wörterbuch gehören dazu auch Videos. „Wir reden mit den Händen, mit unserem Körper, es ist nicht nur ein abstraktes System von Regeln, es ist nicht nur Grammatik“, erklärt sie. In den Videoaufnahmen kann man die Minderico-Sprecher beim Gestikulieren, beim Augenkontakt und der Körperhaltung beobachten.

Finden kann man das Minderico im Archiv für bedrohte Sprachen der SOAS University London. Die dortige Datenbank ist frei zugänglich. Rund 450 Sprachen kann man dort bereits abrufen. Die meisten kommen von Übersee, aus Afrika oder Südamerika. Europa selbst hat keine besonders große Sprachdiversität, meint Ferreira. Etwa 300 Sprachen gibt es in Europa, wie viele davon bedroht sind, sei unklar. „Manche sagen, es gibt nur neun bedrohte Sprachen in Europa, aber das kann nicht sein, ich selbst habe einmal auf einer Konferenz eine kleine Umfrage gemacht und kam da schon auf elf“, erklärt sie.

Den „Sprachenretterinnen“ geht es übrigens nicht in erster Linie um die Revitalisierung, also Wiederbelebung der Sprache im Alltag. Sie dokumentieren und archivieren. Ob weiterhin gesprochen wird, hängt von den Menschen vor Ort selbst ab. Aber auch hier kann es von Vorteil sein, wenn spätere Generationen den kompletten Wortschatz ihrer Sprache online abrufbar haben.

Hanna Ronzheimer, Ö1-Wissenschaft

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