Paradox: Mehr Bildung, weniger Gleichheit

In den vergangenen Jahrzehnten ist der Bildungsstand weltweit gestiegen. Das führt zu besseren Lebensbedingungen, höherer Produktivität und mehr gesellschaftlichem Engagement - kann die soziale Ungleichheit aber mitunter verschärfen.

Warum das so ist, erklärt der Soziologe Justin Powell, Professor für Bildungssoziologie an der Universität Luxemburg, im Interview. Er war anlässlich einer Tagung zum Thema „Bildung und sozialer Fortschritt“ am Institut für Höhere Studien zu Gast in Wien. Wer vom Bildungssystem ausgeschlossen wird, wo Österreich ein internationales Vorbild ist und wo es Verbesserungsbedarf gibt, beantwortet er im Gespräch mit science.ORF.at.

science.ORF.at: Die Gesellschaft wird immer gebildeter, immer mehr Menschen erreichen formale Bildungsabschlüsse. Wer bleibt dabei auf der Strecke?

Justin Powell: Wir haben es in der Tat mit einem Paradox zu tun: Da die allgemeine Bildungsbeteiligung zugenommen hat, ist es einfach deutlicher geworden, dass bestimmte Gruppen benachteiligt sind und nicht daran teilhaben. Absolut gesehen haben sich die Bildungsraten deutlich erhöht, relativ gesehen gibt es immer noch eine Gruppe, die sogar stärker stigmatisiert ist, weil eben alle anderen mehr profitiert haben.

Also die Gruppe der niedrig qualifizierten Personen?

Powell: Genau, vor hundert Jahren waren das Mädchen, die sind jetzt in vielen Gesellschaften eigentlich besser dran als Buben. Heute werden Personen aus niedrigen sozialen Schichten, Migranten und vor allem auch Jugendliche und Kinder mit Behinderungen benachteiligt. Und meine Forschung zeigt immer wieder, dass wir diese Gruppe durch die Segregation in Sonderschulen oder Sonderklassen besonders benachteiligen.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 8.10., 13:55 Uhr.

Es kommt also durch mehr Bildung gewissermaßen zu mehr Ungleichheit?

Powell: Es ist relativ gesehen so, dass bestimmte Gruppen stärker ausgegrenzt sind, weil die allgemeine Bildungsbeteiligung und die Abschlussraten höher werden. Auf der anderen Seite gibt es Länder, die diese benachteiligten Gruppen sehr gut fördern. Wenn wir zum Beispiel nach Nordeuropa schauen, dann ist da sehr viel möglich, was wir auch in Kontinentaleuropa verbessern könnten.

Wie kann man denn verhindern, dass niedrig qualifizierte Personen sozial ausgeschlossen werden?

Powell: Österreich, Deutschland und die Schweiz, also Länder mit starken Berufsbildungssystemen - wir nennen das collective skills systems - haben da einen großen Vorteil. Alle Welt schaut auf diese Länder, weil sie verbesserte Übergänge zwischen Schule und Berufsbildung und über diese Qualifizierung dann in den Arbeitsmarkt in verschiedenen Berufen ermöglichen.

Sie meinen die berufsbildenden Schulen oder die Lehre mit Matura?

Powell: Genau, das sind solche Formen. Und wenn wir benachteiligten Jugendlichen oder Jugendlichen mit Behinderungen den Zugang zu solchen Organisationen sichern, dann haben sie auch bessere Chancen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Wieviel bringt Bildung denn in Bezug auf soziale Chancen, wieviel wird in die Wiege gelegt?

Powell: Wir leben in Gesellschaften, wo wir meritokratischen Glaubenssätzen folgen. Wenn wir 100 Jahre zurückblicken, sehen wir, dass wir enorme Gleichheit erreicht haben, aber in Bereichen wie Bildung oder Gesundheit haben wir es mit Idealen zu tun, wir wollen das Maximum, und das ist sehr schwer vereinbar mit der Realität. Es ist auch eine Frage von Lebensverläufen, wir starten nur einmal im Leben und diese Benachteiligungen können lebenslang Auswirkungen haben. Deswegen sind lebenslanges Lernen und Weiterbildung auch so wichtig, weil es so noch eine Möglichkeit gibt, später im Leben von Bildung zu profitieren und dadurch auch bessere Chancen zu erreichen.

In Österreich ist ja vor allem Hochschulbildung noch recht stark vom Elternhaus abhängig. Sie vergleichen in Ihrer Forschung internationale Bildungssysteme. Wo funktioniert die soziale Durchlässigkeit gut, wo weniger?

Powell: In Gesamtschulsystemen, die auf das gemeinsame Lernen von allen Kindern und Jugendlichen setzen, funktioniert das in der Regel besser. Die nordischen Länder, die Gleichheit sehr in den Fokus ihres Handelns rücken, sind hier Vorreiter, auch aufgrund der vielen Transferleistungen [wie Stipendien]. Und da können wir schon sagen, dass ein solches Bildungssystem zu mehr Gleichheit führt. Selektive Bildungssysteme wie beispielsweise im deutschsprachigen Raum, die Kinder sehr früh auf verschiedene Schulformen verteilen, machen es schwer und da müssen wir überlegen, ob wir nicht doch noch viel stärker als bisher einen Wandel anstreben sollten.

Das heißt in Österreich sehen Sie den Vorteil der Berufsbildung, also der berufsbildenden Schulen, aber trotzdem das Problem der frühen Selektion?

Powell: Genau. Aber gerade föderale Länder wie Österreich haben eine große Chance, indem sie auch auf die regionale Entwicklung schauen, wo viel ausprobiert werden kann. Natürlich gibt es international immer Best-Practice-Beispiele, aber man müsste auch schauen, welchen Erfahrungsschatz es denn eigentlich im eigenen Land gibt. Wenn es um inklusive Bildung geht, ist zum Beispiel die Steiermark sehr führend. Und ich würde mir wirklich wünschen, dass in föderalen Ländern die Regierung solche Beispiele verstärkt als Modell nimmt. Und gute Ideen, die über Jahrzehnte hinweg entwickelt worden sind, wirklich flächendeckend unterstützt, damit sie auch für alle nutzbar sind.

Was zeigen Ihre Vergleichsstudien, welche Punkte sind ausschlaggebend für mehr soziale Durchmischung in Schulen?

Powell: Auch für die soziale Durchmischung ist eine spätere Aufteilung auf verschiedene Schulformen ausschlaggebend. Natürlich muss auch der räumlichen Segregation entgegengewirkt werden. Das ist besonders in den USA ein Problem, die Schuleinzugsgebiete innerhalb von Städten und Bezirken werden meist sehr homogen im Laufe der Zeit. Und das Zusammenwirken von Bildungs- und Sozialpolitik ist wichtig, um der sozialen Benachteiligung zu begegnen.

Wie lautet Ihre Zukunftsprognose, schreitet die Bildungsexpansion weiter voran oder ist schon ein Höhepunkt erreicht?

Powell: Ich denke, wir müssen den ganzen Lebensverlauf betrachten. Wir investieren immer mehr Jahre in Bildung und Ausbildung, und das zahlt sich auch aus. Aber ich denke, wir werden eher eine Verlagerung der Bildungsbiografien später im Erwachsenenalter finden, wo man immer wieder neue Ausbildungen genießt.

Interview: Julia Geistberger, Ö1 Wissenschaft

Mehr zu dem Thema