Plädoyer für die Zeitlupe

Manche finden Peter Handke langweilig. Die bekannte Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell sieht das anders. Sie hält mit dem frischgebackenen Nobelpreisträger ein Plädoyer für Gehen, Zeitlupe - und überraschende Aspekte der Langsamkeit.

science.ORF.at: Was halten Sie von der Entscheidung der Nobelpreisjury?

Avital Ronell: Ich war verblüfft und sogar glücklich, dass Handke gewonnen hat. Als ich davon erfahren habe, musste ich sofort daran denken, wie immens wichtig er für mich in meinen Zwanzigern war. Er hat mich zu österreichischer Literatur gebracht - Bachmann, Rilke, Doderer und Jelinek. Ich bin auch ein großer Fan von Karl Kraus und den österreichischen Philosophen – sogar Popper bezaubert mich bizarrerweise. In den Zeitungen steht jetzt zwar überall: „Was für ein Wunder, wir hatten doch erst vor 15 Jahren den Nobelpreis für Elfriede Jelinek, und jetzt schon wieder, das gibt es doch nicht!“ (Anm. kursive Stellen im Originalgespräch auf Deutsch). Ich denke der Preis gebührt auch allen, die nicht geehrt wurden und die zu ehren vielleicht schwierig ist, wie etwa Thomas Bernhard. Es ist auch sehr wichtig, die österreichische von der sogenannten deutschen Literatur zu unterscheiden.

Avital Ronell ist Germanistin, Literaturwissenschaftlerin und Philosophin. Sie lehrt an der New York University, nachdem sie im Vorjahr wegen eines Verfahrens (über das sie aus juristischen Gründen nicht sprechen kann) suspendiert war. Im Rahmen der Globart Academy war sie Gast in Klosterneuburg.

Hat Handke Sie beeinflusst?

Ronell: Als junge Studentin in Princeton habe ich all seine Werke gelesen. Dort hat er ja auch die Gruppe 47 im Jahr 1966 beschimpft, er hat sie buchstäblich „impotent“ genannt, ihr Verhältnis zu Sprache sei peinlich usw. Ich mochte seinen Kämpfergeist und zugleich seine Sanftheit, diese Gegensätze haben mich sehr angezogen. Er ist vielleicht nicht so frevelhaft wie die anderen erwähnten Autoren und Autorinnen, aber er hat auch ein klaren Sinn von Amerika, weiß, wie man einen kurzen Brief zu einem sehr langen Abschied schreiben kann, über den Tod seiner Mutter und die Angst, die er mit dem existenziellen Dilemma eines Sportereignisses ausdrückte – all das hat mich bei meinem eigenen Schreiben immer begleitet, die athletischen Kalkulationen, Unmöglichkeiten, Vorbereitungen und auch die Einsamkeit.

Avital Ronell

ORF/Lukas Wieselberg

Handke wandert gerne, er flaniert, geht spazieren. Wie wichtig ist dabei die Natur?

Ronell: Es gibt eine lange Tradition von Naturliebhabern in der Literatur, darunter Rousseau, der im Exil wichtige botanische Beobachtungen gemacht hat, Goethe natürlich, aber auch Handke. Dichter und Literaten kultivieren tendenziell das Verhältnis zu natürlichen Phänomenen. Ich selbst bin ein Stadtmensch, habe einen anderen Sinn für die Dinge, ich folge natürlich auch der Heilkraft, die die Natur anbietet, die empirische Natur ist aber etwas ganz anderes als die in Literatur und Dichtung. Dort ist sie eher ein Sprungbrett für alle Arten kontemplativer Möglichkeiten.

Lesen Sie Handke auch heute noch? In seinen letzten Büchern ging es viel um Wandern und Schwammerlsuchen. Manche finden das langweilig …?

Ronell: Ich bin im Geist schon viel mit Handke gewandert, das Motiv „Gehen“ interessiert mich, das Bedürfnis in Bewegung zu bleiben, „sich gehen lassen“, Schritte zu machen, um Denken und Poesie zu inspirieren. Viele haben das Privileg eines solchen Rückzugs nicht. Apropos, an der Stelle kann Rousseau historisch mit Handke verbunden werden. Es wäre ein Fehler zu glauben, dass Rückzug nur Passivität, Genusssucht oder langweilige Kontemplation ist. Rückzug ist sehr oft strategisch, es kann auch eine Möglichkeit sein sich zu sammeln und sein Verhältnis zur Zeit wieder einzurichten – ohne Natur mystifizieren zu wollen, was viele Ideologien getan haben. Handke steht da in einer sehr alten philosophischen und peripatetischen Tradition, bei der es auf Engagement ankommt, wie man schreibt, wie man Spuren schafft und Andersartigkeit aufspürt, die in den meisten Fällen weder menschlich noch tierisch ist, sondern pflanzlich. Wenn der Exkurs gestattet ist: Der wirkliche Schock, den Darwin ausgelöst hat, war nicht seine Evolutionstheorie, sondern seine Beobachtung, dass auch Pflanzen befruchtet werden. Sogar Pflanzen „tun es“! Das wurde als obszön und unwahrscheinlich betrachtet. Wenn man sich also mit Pflanzen beschäftigt, beschränkt man sich nicht, sondern öffnet unerwartete Räume von Verhaltensweisen, die sehr still sind. Heute, mit allen technologischen Werkzeugen und der ständigen Reizüberflutung, ist Handkes Vorliebe fürs Pilzsammeln etc. in sich schon ein rebellischer Akt und eine Entscheidung für die Zeitlupe.

Sie haben kein Problem mit der Zeitlupe?

Ronell: Nein, und ich finde sie auch nicht langweilig. Wenn man ganz ruhig ist und nicht in Panik verfällt, kann die sogenannte Langeweile eine existenzielle Öffnung bedeuten, eine Lethargie, die es erlaubt, dass etwas geschieht, das ohne „Langeweile“ nicht geschehen würde, inklusive einer Geschichte von Obszönitäten, die man nicht erwarten würde in der sogenannten Natur.

Avital Ronell

ORF/Lukas Wieselberg

Wenn ich Handke lese, habe ich das Gefühl, dass er sehr besorgt darüber ist, die Natur, die er durchschreitet, zu verlieren. Teilen Sie dieses Gefühl, dass uns die Natur aus den Fingern gleitet?

Ronell: Natur ist immer in Gefahr zu verschwinden, verschmutzt oder zerstört zu werden. Aber ich achte auch auf die selbstzerstörerischen Aspekte der Natur, die einem gewissen Rhythmus des Todestriebs folgen, wie ihn Freud beschrieben hat. Der Schock etwa nach dem Erdbeben von 1775 in Lissabon, das den Zeitgenossen eine Natur gezeigt hat, die sehr übel, launenhaft und im besten Fall indifferent sein kann. Mir liegt eigentlich ein Verständnis einer Natur nahe, die uns umsorgt und eine gute Kraft darstellt – darin enthalten muss aber auch die Möglichkeit des Verlusts sein. Wenn wir etwas oder jemanden lieben, können wir es, sie oder ihn auch wieder verlieren. Vom ersten Tag im Paradies bestand die Drohung: ein falscher Schritt, und wir fliegen raus aus der Natur! Das ist Teil unseres Verhältnisses zu Natur, und dazu gehören auch die Giftpilze, die Derrida Pharmacon nannte – eine Art bittere Pille, die heilen, aber auch töten kann. Oder wie Nietzsche sagte: Alles ist eine Frage der Dosis. Zuviel Natur kann giftig sein, egal ob Pflanzen, Erdbeben oder die Abgründe, in die einen die Natur wirft und die man nicht verstehen kann.

Heute hat man oft den Eindruck, etwa im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung, dass alles wieder gut werden würde, wenn nur „der Mensch“ verschwinden würde, dann gäbe es z.B. keine Emissionen mehr ...

Ronell: Schauen Sie, sogar Kühe furzen. Wenn man in den Schweizer Alpen zur Erholung gute Luft schnappen will, kann man das bemerken. (lacht) Gegensätze wie Mensch-Natur sind als Ausgangspunkt des Denkens vielleicht wichtig, darüber hinaus helfen sie aber wenig. Denn die Natur kann für den Menschen eine Katastrophe sein, der Mensch für die Natur – er kann aber auch für sich eine Katastrophe sein. Es gibt also viele Möglichkeiten, je nachdem wie wir das betrachten. Eines erscheint mir noch wichtig, nämlich dass die Erde und die Natur verweiblicht wurden. Psychoanalytisch im Sinne von Freud und Lacan ist es kein Zufall, dass die „Mutter Erde“ angegriffen, geplündert und vergewaltigt wird. Wenn Flugzeuge ihre Bomben abwerfen, schauen die Piloten oft Pornos und pushen sich mit lauter Rockmusik, sie fühlen eine Lust und eine Erregung dabei – das kann man nicht trennen von der Verschmutzung, der Ausbeutung und auch dem Hass gegenüber der Natur. Ich bin aber sehr dafür, auch die Kehrseite des Phänomens zu betrachten – auch das, was als Heilsamkeit der Natur gilt. Denn was ist nicht schon alles geschehen im Namen natürlicher Lösungen, von „Aufräumen“ und „Säuberung“? Was ist überhaupt sauber und was schmutzig? Wer sind die Menschen und Minderheiten, die als dreckig gelten und gesäubert werden sollen? Ich bin sehr skeptisch gegenüber jeder Art von universalem Konsens - auch wenn man sich heute militant dafür einsetzen muss, diese Erde zu säubern. Die Frage ist, ob das überhaupt möglich ist, ohne einen radikalen Eingriff in das, was man heute Mensch oder Menschheit nennt.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass „Mutter Erde“ heute emblematisch von einer sehr jungen Frau verteidigt wird … ?

Ronell: Absolut, Greta Thunberg ist heute unsere kleine Antigone. Wie die griechische Heldin lehnt sie sich gegen den Staat auf und bekämpft toxische Männlichkeit. Sie ist das Live-Sprachroher der ethischen Frage unserer Zeit und hat etwas Historisches und Literarisches, das an Jeanne d’Arc erinnert.

Interview und Übersetzung: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: