„Verschwörungstheorien ernst nehmen“

Über manche Verschwörungstheorien kann man lachen, andere sind nur erschreckend. Ernst zu nehmen sind sie allemal, meint der Soziologe Didier Fassin. Die dahinterstehenden Ängste würden viel über eine Gesellschaft aussagen.

Didier Fassin, Professor für Sozialwissenschaft am Institute for Advanced Study in Princeton und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, hat einen interdisziplinären Zugang zu Verschwörungstheorien. Als Arzt und Sozialwissenschaftler untersuchte er Anfang der 2000er Jahre in Südafrika eine besonders tödliche Form davon: Der damalige Präsident Thabo Mbeki und seine Umgebung leugneten, dass Aids durch das HI-Virus ausgelöst wird. Als wichtigste Ursache für die Immunschwächekrankheit orteten sie Armut.

Didier Fassin hielt die 13. Eric Wolf Lecture in Wien, veranstaltet vom Institut für Sozialanthropologie der ÖAW, dem Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.

Entsprechend wurden Kranke nicht mit antiretroviralen Medikamenten behandelt – die aus Sicht Mbekis nur den Pharmariesen nützten und aus den schwarzen Südafrikanern „Versuchskaninchen machten –, sondern mit verschiedenen unwirksamen Hausmitteln. Nach Schätzungen kostete diese „heterodoxe Aids-Theorie“ einigen Hundertausenden Menschen das Leben.

Altes Misstrauen gegen Medizin

„Als Arzt vertrete ich natürlich die ‚orthodoxe Aids-Theorie“, betont Didier Fassin, der früher auch Vizepräsident von „Ärzte ohne Grenzen“ war. „Es ist aber viel zu leicht, die Ansichten Mbekis als bloße Verrücktheit abzutun - oder als einfachen Versuch, die Wählerstimmen der armen, schwarzen Bevölkerung zu bekommen.“ Die Sache sei viel komplizierter und habe reale historische Wurzeln. Das Misstrauen in der schwarzen Bevölkerung in Südafrika gegenüber der Medizin hat laut Fassin eine lange Tradition: Im 19. Jahrhundert wurden die Rassen aus „Hygienemaßnahmen“ bei Pestepidemien getrennt. Die Schwarzafrikaner kamen in lokal segregierte Wohngegenden, daraus entstanden die Townships, in denen viele bis heute in Armut leben. Die Medizin war ein Verbündeter der rassistischen Politik, so Didier Fassin, und diese Geschichte wiederholte sich später mit Tuberkulose, Syphilis und dann mit Aids.

Der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki bei einer Aids-Veranstaltung im Mai 2000

AP

Der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki bei einer Aids-Veranstaltung im Mai 2000

Mbeki hat mit seinen Verschwörungstheorien also einen wahren Kern berührt. Und nicht zuletzt deshalb hält es Fassin für wichtig, sich mit ihnen zu beschäftigen. „Man sollte Verschwörungstheorien weder denunzieren noch sich lustig machen – auch wenn es lächerliche Beispiele gibt, wie den Glauben, dass wir von Reptilien regiert werden.“ Verschwörungstheorien sagen etwas aus über die Ängste einer bestimmten Zeit. „Menschen im Kalten Krieg waren etwa auf beiden Seiten intellektuell so formatiert, dass sie jede Handlung als Teil einer bösartigen Verschwörung des Feindes interpretierten.“ Das Ganze habe aber auch eine soziologische Dimension: Manche Bevölkerungsteile neigen eher zum Glauben an eine Verschwörung als andere – tendenziell jene, die sich unterdrückt fühlen oder tatsächlich unterdrückt werden.

Technologie begünstigt Verbreitung

Ob die Bereitschaft an Verschwörungen zu glauben, heute tatsächlich weiter verbreitet ist als früher, vermag der Sozialwissenschaftler nicht zu beantworten. „Gesicherte empirische Evidenz dazu haben wir keine. Was man aber sagen kann, ist, dass heute bestimmte Elemente ihre Verbreitung begünstigen.“ Dazu gehören Internet, Social Media, Bots und vieles, was unter „alternative Medien“ läuft. Fassin sieht aktuell aber auch eine anthropologische Komponente: „Wir leben in einer komplexen Welt mit einer Fülle an Informationen und Aufrufen, transparent mit ihnen umzugehen. Zugleich müssen wir aber erleben, dass viele Regierungen und Unternehmen aus verschiedenen Gründen Informationen verschweigen.“ Dieser Kontrast und das Misstrauen, das daraus entsteht, seien zwar nicht neu, aber heute besonders stark ausgeprägt.

Flüchtlingslager im Libanon mit syrischen Refugees

APA/AFP/JOSEPH EID

Verschwörungstheorien bezeichnen Flüchtlinge in Europa als „Großen Bevölkerungsaustausch“, im Bild ein Flüchtlingslager im Libanon

Gibt es heute überhaupt so etwas wie einen neuen Typus von Verschwörungstheorien? Die beiden US-Politikwissenschaftler Russell Muirhead und Nancy Rosenblum haben genau das in ihrem kürzlich erschienenen Buch “A lot of People are Saying“ behauptet (Rezension). Sie nennen das Phänomen „New Conspiracism“ und beziehen sich damit auf Anhänger „alternativer Fakten“, inklusive des US-Präsidenten Donald Trump, der sich in einem Kampf gegen Eliten und einen verborgenen „deep state“ wähnt. Verschwörungstheorien hätten früher einen theoretischen, oft sehr kompliziert ausformulierten Unterbau gehabt, so Muirhead und Rosenblum. Heute hingegen kämen Verschwörungsideen komplett ohne Theorie aus. „Ich sehe das etwas plumper“, sagt Didier Fassin. „Wer etwa behauptet, dass Barack Obama ein Muslim ist, lügt. Ebenso, wer die These vom ‚Großen Bevölkerungsaustausch‘ aufstellt. Man muss Lügen auch als solche bezeichnen – und nicht als Verschwörungstheorien.“

Verschwörungstheorien machen aus allem Sinn

Dies gelte zumindest für die Seite der Produzenten und Produzentinnen von Lügen. Was aber ist mit denen, die an sie glauben? „Da ist die Sache schon wieder komplexer“, meint Fassin, denn viele würden an Lügen und Verschwörungstheorien glauben. Beiden gemein ist, dass sie eine komplexe Welt einfacher und übersichtlicher machen. „Viele Geschehnisse sind heute nicht transparent – man weiß nicht, ob sie wahr oder falsch sind. Die Stärke von Verschwörungstheorien besteht darin, dass sie alles miteinander zu einer Erzählung verknüpfen – sie machen aus allem Sinn.“ Dagegen helfe nur kritisches Denken, betont Didier Fassin. „Als Sozialwissenschaftler müssen wir denken, dass die Welt nicht nur so ist, wie sie aussieht. Wir müssen versuchen, ihre Komplexität zu verstehen, nach Wahrheit suchen und für Transparenz sorgen.“

Wobei die Grenze zwischen Wahrheit und Verschwörungstheorie oft nicht so eindeutig ist. Das zeige auch das Beispiel aus Südafrika, so Fassin. „Als Präsident Mbeki meinte, dass Armut Aids verursacht, war das auch eine Kritik an der westlichen Medizin, die damals nur die biologische und immunologische Dimension der Krankheit betrachtet hat und nicht die sozioökonomische – obwohl wir schon seit der Tuberkulose im 19. Jahrhundert wussten, das davon vor allem die Armen betroffen sind.“ Ein derartiges Manko lässt sich in die Wissenschaft aber recht einfach integrieren: In jedem Dokument der Weltgesundheitsorganisation WHO zu Aids ist mittlerweile von beiden Dimensionen die Rede.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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