Der Doyen der Gedächtnisforschung wird 90

„Ich arbeite Vollzeit, ich werde Vollzeit bezahlt“, sagt Eric Kandel. Der US-amerikanische Nobelpreisträger beweist, dass man auch im hohen Alter hochproduktiv sein kann. Seinen 90. Geburtstag feiert er heute in seiner Geburtsstadt Wien.

Im Sommer ist im Fachjournal „PNAS“ Kandels jüngste wissenschaftliche Arbeit erschienen. Mit seiner Arbeitsgruppe am Jerome L. Greene Science Center der Columbia University in New York hat er herausgefunden, dass ein Protein (CPEB3) Neuronen dazu bringt, Langzeiterinnerungen zu speichern. Tagtäglich kommt er noch in das von Stararchitekt Renzo Piano designte Gebäude und forscht mit einem fixen Budget vom Howard Hughes Medical Institute.

Dass es ein Leben nach dem Medizin-Nobelpreis gibt, beweist Kandel nicht nur durch bedeutende Forschungserfolge in den vergangenen Jahren. Er reüssierte auch als Buchautor, wobei er das Schreiben über seine alte Heimat Wien und die Vertreibung aus derselben durch die Nazis als „posttraumatische Belastungsstörung“ empfand, wie er einmal sagte.

Erinnerung als Lebensthema

Erinnerung und Gedächtnis sind die zentralen Themen im Leben Kandels, in persönlicher und in wissenschaftlicher Hinsicht. Es ist das Thema, das ihm im Jahr 2000 gemeinsam mit Arvid Carlsson und Paul Greengard den Medizin-Nobelpreis eingebracht hat. Sie wurden „für ihre Entdeckungen zur Signalübertragung im Nervensystem“ ausgezeichnet. Kandel fand anhand der einfachen Strukturen des Nervensystems der Meeresschnecke Aplysia heraus, was bei der Speicherung im Langzeitgedächtnis vor sich geht, dass dabei Gene angeschaltet, Proteine gebildet und zusätzliche Verbindungsstücke zwischen Nervenzellen (Synapsen) aufgebaut werden.

Eric Kandel bei einem Festakt in Wien

APA/GEORG HOCHMUTH

Am 6. November erhielt Kandel das Große Ehrenzeichen der Ärztekammer Wien

Genau so haben sich die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit in Kandels Langzeitgedächtnis eingebrannt. „Es waren alle schlecht, ohne Ausnahme“, erinnerte sich der am 7. November 1929 in eine jüdische Familie geborene Kandel an das Verhalten der Menschen in seiner Geburtsstadt Wien nach dem „Anschluss“ 1938. Sein Vater hatte ein Spielwarengeschäft in Wien-Währing, beim Novemberpogrom 1938 wurde die Wohnung der Familie geplündert.

Von der Literatur zur Neurobiologie

Im April 1939 gelang ihm und seinem Bruder die Flucht in die USA, seine Eltern konnten später folgen. In Harvard studierte Kandel zunächst zeitgenössische europäische Geschichte und Literatur. Er schloss dort Freundschaft mit Kollegen, deren Eltern Mitglieder des Freud’schen Kreises in Wien gewesen waren. Dadurch wuchs sein Interesse an der Untersuchung des menschlichen Geistes.

Er wechselte 1952 an die New York University, um Medizin zu studieren und Psychiater zu werden. Nach seiner Promotion 1956 begann er am Montefiore Hospital in New York und wurde schließlich in Boston am Massachusetts Mental Health Center zum Psychiater ausgebildet. Im Laufe des Studiums interessierten ihn zunehmend die biologischen Vorgänge im Gehirn.

Von 1965 bis 1974 war er Associate Professor am Department of Physiology and Psychiatry der New York University und arbeitete in dieser Zeit auch drei Jahre lang im Labor für Neurophysiologie der nationalen US-Gesundheitsinstitute im US-Bundesstaat Maryland. Das war jene Zeit, in der Kandel nach eigenen Angaben zum Aufdecker organischer Veränderungen im Gehirn im Rahmen von Signalübermittlung und Gedächtnisbildung wurde.

Als Forscher hochdekoriert

1974 kam Kandel an die Columbia University, wo er das Zentrum für Neurobiologie und Verhalten gründete. Er ist nach wie vor Professor an der Columbia und Seniorwissenschafter des Howard Hughes Medical Institute.

Kandel hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, neben dem Nobelpreis unter anderem den Albert Lasker-Preis für medizinische Grundlagenforschung (1993), die nationale US-Medaille für Wissenschaft (1988) und den Wolf-Preis für Biologie und Medizin des Staates Israel (1999).

Nobelpreisträger Eric Kandel einen Tag vor seinem 90. Geburtstag

APA/GEORG HOCHMUTH

Festreigen: Auch der Wiener Rathausmann wurde Kandel dieser Tage überreicht

Statt einer Ehrung durch das offizielle Österreich im Anschluss an den Nobelpreis - die Ehrenzeichen erreichten ihn später dennoch, etwa in Form des Großen Silbernen Ehrenzeichens der Republik oder der Wiener Ehrenbürgerschaft - wünschte er sich ein Symposium über die Folgen des NS-Regimes für Forschung und Bildung, das 2003 in Wien stattfand. Dieser Wunsch ist symptomatisch für Kandels Ansatz, junge Leute zu erreichen, „die bereit sind, die Vergangenheit zu erforschen, und damit ein Umfeld zu schaffen, in dem so etwas nie wieder passieren kann“.

Frieden mit der Vergangenheit

„Es hat lange gedauert, aber jetzt ist es da“, sagte er 2013 bei der Präsentation des Sammelbands „Der lange Schatten des Antisemitismus“. Er spielte damit wohl auch auf die von ihm lange geforderte Umbenennung jenes Stücks der Ringstraße an, das nach dem Wiener Bürgermeister und Antisemiten Karl Lueger benannt war und nun „Universitätsring“ heißt.

In dem Buch schrieb Kandel auch über das kreative Potenzial der Jahrhundertwende in seiner Geburtsstadt - ein Thema, dem er sich schon 2012 in großem Umfang widmete: In dem mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichneten Werk „Das Zeitalter der Erkenntnis“ gelang ihm ein Brückenschlag zwischen Hirnforschung und Kulturgeschichte. Sein jüngstes Buch widmete er der Frage „Was ist der Mensch?“ und den „Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten“ (2018). Es wurde als österreichisches Wissenschaftsbuch des Jahres 2019 in der Kategorie „Medizin/Biologie“ ausgezeichnet.

Er habe sein ganzes Leben lang versucht, mit seiner Wiener Vergangenheit fertig zu werden, sagte Kandel einmal. Und nach wie vor mahnt er, etwa dass Österreich „keine Anstrengungen unternommen habe, Juden zu ermutigen, wieder nach Wien zu kommen“ und sich „bisher nicht sehr bemüht hat, die Menschen daran zu erinnern, was sie den Juden zu verdanken haben“. Doch der Mediziner, der auch die österreichische Staatsbürgerschaft wieder angenommen hat, scheint seinen Frieden mit der Vergangenheit gefunden zu haben: „Ich glaube, das habe ich abgeschlossen. Ich fühle mich recht wohl mit meiner Wiener Vergangenheit.“

science.ORF.at/APA

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