Gletscher: Es könnte schlimmer sein

Die sommerliche Hitze hat den österreichischen Gletschern auch in diesem Jahr zugesetzt, doch der schneereiche Winter hielt die Verluste halbwegs in Grenzen: Andrea Fischer und Hans Wiesenegger ziehen in ihrem Gletschertagebuch Bilanz.

Nach den teils deutlich überdurchschnittlichen Schneefällen des letzten Winters und einem kühlen Mai lag viel Schnee auf den Gletschern, als im Juni mit einer Hitzewelle extreme Schneeschmelze einsetzte. Laut ZAMG folgte auf den kühlsten Mai seit 28 Jahren der wärmste Juni der Messgeschichte, der um gleich 4,7 Grad über dem langjährigen Mittel lag.

Porträtfotos von Andrea Fischer und Hans Wiesenegger

Fischer/Wiesenegger

Über die Autoren

Andrea Fischer ist Gletscherforscherin am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck. Ihr Hauptforschungsgebiet sind Gebirgsgletscher und deren Änderung im Klimawandel.

Hans Wiesenegger ist Leiter des Hydrographischen Dienstes (HD) des Landes Salzburg. 1893 gegründet und in allen Bundesländern vertreten, ist der HD unter anderem für die Datenerhebungen zum quantitativen Wasserkreislauf (inkl. Gletscher) zuständig. Die Daten werden vom Hydrographischen Zentralbüro beim Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus veröffentlicht.

Das Gletschertagebuch auf science.ORF.at initiierte Heinz Slupetzky im Jahr 2003, dem ersten einer Reihe von Jahren mit extremer Gletscherschmelze. Slupetzky war Leiter der Abteilung für Gletscher- und vergleichende Hochgebirgsforschung sowie der Hochgebirgs- und Nationalparkforschungsstelle Rudolfshütte. Im Jahr 2018 hat er die Betreuung des Gletschertagebuchs an Fischer und Wiesenegger übergeben.

Der bisher wärmste Juni des Jahres 2003, der ebenfalls mit extremer Gletscherschmelze einherging, war um 4,1 Grad wärmer als das langjährige Mittel. Auch in punkto Sonnenstunden wurde die Abweichung des Juni 2003 deutlich übertroffen, der Juni 2019 wies ein Plus von 50 Prozent der Sonnenstunden auf. Juli, August und September lagen zwischen ein und zwei Grad über dem langjährigen Mittel.

Winter verhindert Rekordverluste

Begünstigt durch den kühlen Mai nahm die Schneedecke im Hochgebirge bis Anfang Juni kontinuierlich zu. Die folgende Hitzewelle führte bei schönstem und niederschlagsfreiem Wetter zu sehr hohen Pegelständen im Oberlauf der Salzach und am Inn. Bei dieser bisher sehr selten aufgetretenen und lang andauernden Hochwassersituation wurden mehrfach Warn- und Alarmgrenzen erreicht bzw. überschritten Der tägliche Abfluss am Pegel Mittersill und Innsbruck lag wochenlang deutlich über den langjährigen Mitteln des Monats Juni.

Grafik zur Gletscherschmelze 2019

Hans Wiesenegger

Langjähriger Abflussvergleich am Pegel Innsbruck und Pegel Mittersill

Die Schneedecke schmolz so bis in große Höhen relativ rasch dahin. In Gebieten mit extremer Schneeakkumulation während des Winters rettete sich noch eine schöne Schneehaube über den Sommer, während im Westen Österreichs der Winterschnee ein weiteres Mal völlig abschmolz. Wenn die Gletscherzungen so auch teilweise gleich trist anzusehen waren wie in den letzten Jahren, so war doch die Schmelzdauer etwas kürzer. Die meisten Gletscher waren zwischen Mitte Juli und Anfang September schneefrei, etwa vier Wochen kürzer als in den Vorjahren, und damit die Gesamtverluste geringer als in den Rekordjahren 2017 und 2018. Wäre im Winter nicht extrem viel Schnee gefallen, so wäre es wohl ein weiteres Jahr mit Rekordverlusten geworden.

Sonnblickkees: „Wie gewonnen so zerronnen“

Mit einer deutlich überdurchschnittlichen Schneehöhe von 495 Zentimeter am Messpunkt „Unterer Eisboden“ standen Anfang Juni die Chancen auf eine ausgeglichene oder sogar positive Massenbilanz noch sehr gut, die folgenden sonnigen Tage und die zu warmen Monate Juli und August ließen die Reserven aus dem schneereichen Winter jedoch rasch abschmelzen.

Verlauf der Schneehöhe Station Weisssee Jänner bis Juli 2019

Hans Wiesenegger

Verlauf der Schneehöhe Station Weißsee Jänner bis Juli 2019

Bedingt durch die spät einsetzende Schneeschmelze erreichte die Ablation im Bereich des Gletscherendes geringe Werte, es schmolz nur etwa halb so viel Eis ab wie im Vorjahr, wobei die stärkste Ablation im August registriert wurde.

Aus heutiger Sicht wird die Massenbilanz 2019 mit einem geschätzten Verlust von 0,5 bis 0,75 Mio. Kubikmeter zwar geringer als der durchschnittliche Verlust der letzten Jahre (1,0 bis 1,5 Mio. Kubikmeter) ausfallen, die Reihe der negativen Massenbilanzen wird aber trotz des extrem hohen Winterzuwachses und der spät einsetzenden Schneeschmelze nahtlos fortgesetzt. Dies wirft die Frage auf, wie ein Jahr klimatisch verlaufen müsste, um wieder einen Massenzuwachs am Stubacher Sonnblickkees zu ermöglichen. Die Schneefälle zwischen 5. und 9. September beendeten jedenfalls die Schmelze auf fast allen Gletschern.

Stubacher Sonnblickkees 4. September 2019

Hans Wiesenegger

Ausaperung Stubacher Sonnblickkees 4. September 2019

Wenn auch die Gletscher seither nur mit 20 bis 30 Zentimetern Schnee bedeckt sind, schneite es doch häufig genug, um die Schmelze für das Jahr 2019 zu beenden. Es steht zu hoffen, dass sich im Lauf des Herbstes oder spätestens bis Mai eine mächtige Schneedecke aufbaut.

Am Hallstätter Gletscher am Dachstein lag Anfang Oktober noch bis zu zwei Meter Schnee, wie Kay Helfricht und Klaus Reingruber berichten. Ähnlich große Rücklagen gab es seit Messbeginn 2006 nur im Herbst 2007 und 2013. Die Eisablation an den Pegeln ist gegenüber dem Vorjahr um ca. einen Meter geringer.

Endlich wieder Schneereserven

Im östlichen Teil der Hohen Tauern gibt es an Goldbergkees und Kleinfleißkees im Gegensatz zu den letzten beiden Jahren 2019 wieder nennenswerte Rücklagen, wie Anton Neureiter von der ZAMG berichtet. Die Werte (Pegeldaten und Fläche der Akkumulation) im Vergleich der letzten Jahre ähneln dem Jahr 2016. So dürfte die Bilanz bei beiden Gletschern zirka dem langjährigen Durchschnitt von -0,7 Metern pro Jahr entsprechen.

Veranstaltungshinweis

Ein Hinweis in eigener Sache: Eine Fotoausstellung zum Gletscherschwund „GOODBYE GLACIERS - Der Gletscherschwund in Bildern“ wird im Jahr 2020 im Alpinarium Galtür, in der Galerie Claudiana in Innsbruck und in Naturpark Haus Längenfeld im Ötztal zu sehen sein.

An der Südseite des Großvenedigers im Nationalparks Hohe Tauern, am Mullwitzkees in Osttirol, liegt der Verlust trotz des überdurchschnittlich warmen Sommers deutlich unter dem Durchschnitt der bisher 13-jährigen Messreihe. Grundlage dafür war vor allem der neuschneereiche Winter 2018/19 mit den bisher größten gemessenen Neuschneemengen. So war das Mullwitzkees auch Anfang Juli noch zur Gänze schneebedeckt. Die stark windbeeinflusste Verteilung der Schneedeckte führte zu verringerter Ablation in tieferen Lagen, gleichzeitig aber auch zu den bisher größten Schmelzbeträgen in den höchstgelegenen Gletscherbereichen, wie Martin Stocker-Waldhuber berichtet.

An der Nordseite des Großvenedigers, am Venedigerkees, einem ehemaligen Seitengletscher des Obersulzbachkeeses, fielen die Verluste ebenfalls geringer aus als in den Vorjahren, oberhalb von 3.000 Meter liegt deutlich mehr Schnee als im Mittel, wie Bernd Seiser berichtet: Endlich gab es wieder tiefere Schneeschächte zu graben.

Schneeschacht mit Eislinsen

Bernd Seiser

Schneeschacht mit Eislinsen: Venedigerkees am 19. September 2019

Am Vernagtferner in den Ötztaler Alpen haben wir eine weite Ausaperung, aber die Schmelzraten sind nicht so hoch wie in den letzten Jahren. Altschnee liegt erst über 3200 m. Die Bilanz, natürlich negativ, wird vermutlich 60 bis 70 Prozent des letzten Jahres betragen. Wir hatten doch noch lange Schnee im Frühjahr und dann war es doch mit dem Schneefall am 6. September weitgehend zu Ende mit der Ablation.

Die Vegetation rückt vor

Am Jamtalferner in der Silvretta ist der Schnee aus dem Winter fast vollkommen abgeschmolzen. Die Gletscherzunge wurde erst später als in den letzten Jahren schneefrei, über den gesamten Gletscher ist so etwa ein Meter Eis weniger geschmolzen als in den letzten Jahren. Die Vegetation erobert die eisfreien Flächen rasch.

Jamtalferner: Die Vegetation erobert Freiräume

Andrea Fischer

Am Jamtalferner gibt es kaum Schneerücklagen, der Gletscher geht zurück – aber die Bäume wachsen

An den Gletschern Südtirols gab es am Ende des Sommers kaum Rücklagen, wie Roberto Dinale vom Hydrographischen Amt Bozen berichtet. Der Massenverlust dürfte überdurchschnittlich groß ausfallen.

Andreas Bauder von der ETH Zürich hat an rund 20 Schweizer Gletschern Messungen durchgeführt. Nachdem im Frühling rund 20-40 Prozent mehr Schnee als im langjährigen Durchschnitt lag zeigt sich im Herbst auch in der Schweiz eine relativ breite Streuung. Im Norden und Osten liegen die Verluste mit ein bis zwei Meter über dem Durchschnitt (in der Silvretta oder im Berninagebiet, aber auch im Westen auf dem Tsanfleuron Gletscher). Die geringsten Verluste zeigen sich auf einer Linie vom Tessin ins Gotthardgebiet, etwa am Basodino-Gletscher oder dem Sankt Annafirn am Gemsstock bei Andermatt.

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