Leben mit einem halben Hirn

Kann man mit bloß einer Gehirnhälfte überleben? Offenbar sehr gut: US-amerikanische Wissenschaftler haben sechs Probanden mit halbseitig amputierten Gehirnen untersucht – und kaum Einbußen bei ihren geistigen Fähigkeiten festgestellt.

Die Operation, die sie im Kindesalter von drei Monaten bis 11 Jahren über sich ergehen lassen mussten, ist ein extremer, eigentlich beängstigender Eingriff. Die Entfernung einer Gehirnhälfte, von Medizinern „Hemisphärektomie“ genannt, wird nur äußerst selten durchgeführt. Bei sehr schweren Fällen von Epilepsie ist sie aber manchmal der letzte Ausweg – das war etwa bei jenen sechs Menschen der Fall, denen nun das Fachblatt „Cell Reports“ einen Bericht widmet.

Was Studienautorin Dorit Kliemann am meisten überrascht hat, ist, "wie bemerkenswert intakt die Fähigkeiten der Probanden waren. Zum Beispiel ihre Sprache: Als sie sich in den Gehirnscanner legten, führte ich mit ihnen Smalltalk – so wie mit hunderten anderen Patienten zuvor.“ Während der Versuche, erzählt die Neurowissenschaftlerin vom California Institute für Technology, habe sie fast vergessen, wie es - organisch - im Kopf der heute 20 bis 30 Jahre alten Probanden aussieht.

Auf den Bildern des Magnetresonanztomographen wurde das freilich unter Beweis gestellt: Wo normalerweise Hirngewebe in Grautönen zu sehen sein sollte, zeigt die Maschine bloß einen dunklen Fleck. Also nichts.

Gehirnscan: Bilder von halbseitig amputierten Gehirnen

Caltech Brain Imaging Center

Offenbar hat sich das Gehirn der Probanden im Laufe der Zeit reorganisiert, schreiben die Forscher und Forscherinnen in ihrem Fachartikel. Die verbliebene Hemisphäre übernimmt nun auch Aufgaben der verschwundenen – und hat deswegen wohl auch stärkere Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Nervennetzen, als es bei gesunden Menschen der Fall ist.

Wie ist das möglich?

Die Untersuchung von Kliemann und ihrem Team wirft natürlich Fragen auf. Kopfverletzungen, Schlaganfälle oder Tumoren können zu massiven Ausfällen der Hirnfunktionen führen, obwohl in diesem Fall oft nur begrenzte Bereiche des Gehirns betroffen sind. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die sechs von Kliemann untersuchten Menschen: Ihnen fehlt das halbe Organ - dennoch leben sie gut mit diesem Verlust, wirklich eingeschränkt scheinen sie nicht zu sein. Jetzt wollen die US-Forscher herausfinden, warum das so ist. Und wie man die Regenerationsfähigkeit des Gehirns bei Verletzungen ankurbeln könnte.

Robert Czepel, science.ORF.at

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