Was alle Lieder auf der Welt verbindet

Zum Einschlafen, zum Tanzen oder aus Liebe: Menschen - egal in welcher Kultur sie leben – singen. Beim schnellen Hinhören klingen die Lieder überall recht anders. Eine Studie zeigt: Welchen Zweck der Gesang verfolgt, lässt sich dennoch weltweit erkennen.

Selbst in den entlegensten Weltregionen wird gesungen. Das bestätigt die groß angelegte und nun in „Science“ erschienene Studie der Forscher um Samuel Mehr von der Harvard University. Sie haben Daten, die Ethnomusikologen und Anthropologen über mehr als einhundert Jahre hinweg gesammelt haben, in einer umfassenden Datenbank („Natural History of Song“) zusammengeführt: Sie enthält Informationen über und Aufnahmen von Liedern aus insgesamt 315 Kulturen - von der Arktis bis zu entlegenen Inseln in Mikronesien.

Video: Singende Shamanen bei den indonesischen Mentawai

Gemessen an ihrer Verbreitung ist Musik in jedem Fall universell. Schon 1835 schrieb der Dichter Henry Longfellow in einem Reisebericht: „Musik ist die universale Sprache der Menschheit …“. Das würde aber bedeuten, dass nicht nur überall Musik gemacht wird, sondern dass sie auch überall gleichermaßen verwendet sowie verstanden wird. Das hielten viele Ethnologen und Ethnologinnen lange Zeit für recht unwahrscheinlich, denn beim ersten Eindruck klingen die meisten Lieder aus verschiedenen Kulturen doch sehr unterschiedlich.

Soziale Funktion erkennbar

Auf der Suche nach Ähnlichkeiten und Unterschieden hat Mehrs Team nun vier Liedtypen analysiert: Tanz-, Wiegen- und Liebeslieder sowie Lieder zur Heilung. Dabei haben sie zum einen mittels Computer nach wiederkehrenden Grundmustern gesucht, zum anderen hörten sich Laien und Experten das Liedgut an.

Wiegenlied der skandinavischen Saami

Wiegenlied der japanischen Ainu

Es zeigte sich, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Form und Funktion gibt und dass der wiederum universell sein dürfte, z.B. sind Tanzlieder in der Regel schneller, Schlaflieder eher sanft und Heilungslieder meist ziemlich monoton. D.h. Menschen auf der ganzen Welt können anhand des Klangs erkennen, welche soziale oder emotionale Funktion ein Lied hat. „Menschen verwenden also ähnliche Musik in ähnlichen Kontexten in aller Welt“, schreiben Tecumseh Fitch und Tudor Popescu von der Universität Wien in einem Begleitkommentar zur Studie.

Menschliche Musikalität

Laut den Studienautoren spiegeln sich die Ähnlichkeiten nicht unbedingt in Melodie und Rhythmus, sondern eher in subtileren musikalischen Eigenschaften, wie Intervallen, Tonumfang und Akzent. Außerdem stellten die Forscher fest, dass es in allen Kulturen das Prinzip der Tonalität gibt, also dass die Notenfolgen von einem Grundton ausgehen. Zudem fanden sich meist größere Unterschiede zwischen den Musikstücken innerhalb einer Gemeinschaft als zwischen dem Liedgut entfernter Kulturen.

Tanzlied der afrikanischen Maasai

Schottisches Liebeslied

Heilungslied der russischen Hezhen

Die Ergebnisse sind laut den Autoren und den Kommentatoren ein starker Beleg dafür, dass der menschlichen Musikalität auch ein universeller kognitiver Mechanismus zugrundeliegt. Sie basiere auf einer kleinen Anzahl körperlicher Grundlagen, die den Menschen mitgegeben sind, heißt es dazu in einer Aussendung der Uni Wien. „Diese ‚musikalischen Säulen‘ werden dann mit den Eigenheiten jeder individuellen Kultur ‚gewürzt‘, aus dem das Sortiment hervorgeht, welches wir in der Weltmusik finden“, erklärt Tudor Popescu.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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