Haben wir uns selbst domestiziert?

Seit mehr als 100 Jahren vermuten Biologen, dass sich der moderne Mensch im Lauf der Evolution in einen „zahmen“ Primaten verwandelt hat. Jetzt erhält die umstrittene Hypothese neuen Aufwind: durch einen Fund im menschlichen Erbgut.

Die Geschichte dieser Entdeckung beginnt mit einer seltenen Erbkrankheit namens Williams-Beuren-Syndrom. Menschen, die an diesem Syndrom leiden, sind kognitiv eingeschränkt und haben große Probleme mit der räumlichen Wahrnehmung. Was nach außen hin aber nicht sofort auffällt, denn die Betroffenen sind meist überdurchschnittlich eloquent, sanft und umgänglich. Man könnte auch sagen: Sie sind noch sozialer als „normale“ Menschen.

Der italienische Stammzellenforscher Giuseppe Testa hat sich nun die Ursache der Erbkrankheit genauer angesehen. Williams-Beuren-Patienten fehlt ein Stück DNA am Chromosom 7, das sogenannte BAZ1B-Gen – und dann ist da noch ein auffälliges anatomisches Detail: Sie haben eine besondere Gesichtsform, ihr Kinn ist zart, die Stirn vergleichsweise breit.

Die Folgen der Partnerwahl

„Wenn man den modernen Menschen mit dem Neandertaler vergleicht, sieht man eine ähnliche Tendenz“, sagt Testa im Gespräch mit science.ORF.at. „Wir haben im Vergleich zu unserem ausgestorbenen Verwandten ein zarteres Gesicht. Und wir haben offensichtlich hoch entwickelte soziale Fähigkeiten.“

Diese Eigenschaften hat schon Charles Darwin als Anzeichen einer Selbstdomestizierung gedeutet. Der Mensch könnte sich, so die Idee, durch die Partnerwahl schrittweise in eine „zahme“ Spezies verwandelt haben. Ähnlich, wie Hund, Katze und Goldfisch durch künstliche Auslese zu dem gemacht wurden, was sie heute sind, nämlich Haustiere.

Links ein moderner Mensch mit Bart, rechts die Illustration eines Neandertalers, dazwischen eine DNA-Helix

Michael Smeitzer, Vanderbilt University

Die Idee wurde im Lauf der Geschichte auch in allerlei rassistischen Varianten formuliert bzw. für ideologische Grauslichkeiten missbraucht (von der Entartungstheorie im 19. Jahrhundert bis hin zu Konrad Lorenz‘ rassenhygienischen Phantasien in den 1940ern). Im Kern, als evolutionsbiologische Hypothese an der Schnittstelle zur Kultur, ist sie dennoch diskutabel: So deutet etwa der japanische Philosoph Masahiro Morioka die menschliche Zivilisation als Folge ebenjener Selbstdomestizierung.

Mutation verändert Gesichtsform

Das ist nach heutigem Stand des Wissens noch immer Spekulation. Aber Testa hat ein paar genetische Puzzleteile entdeckt, die so eine Lesart zumindest nahelegen. Das BAZ1B-Gen ist laut seinen Versuchen nämlich für die Entwicklung des menschlichen Gesichts verantwortlich – mithin der Grund dafür, dass am Williams-Beuren-Syndrom erkrankte Menschen diese besondere Gesichtsform aufweisen.

Als Testa in Gendatenbanken das Chromosom 7 unter die Lupe nahm, wurde er ebenfalls fündig. Das BAZ1B-Gen von Neandertalern und Denisova-Menschen unterscheidet sich offenbar von der Homo-sapiens-Variante durch einige Mutationen. Diese Änderungen im Erbgut haben nach Testas Deutung auch das Gesicht des modernen Menschen verändert, es zarter und seinen Proportionen nach kindlicher gemacht.

Ob die Mutationen auch Sozialverhalten und Sprachvermögen ankurbeln - und BAZ1B somit zum Angelpunkt der Domestizierung wurde, bleibt offen. Möglich wäre es: Seit etwa zehn Jahren ist bekannt, dass eine zusätzliche Kopie des BAZ1B-Gens zu Autismus und Sprachschwierigkeiten führt. Die Symptome sind in vielerlei Hinsicht genau umgekehrt wie bei den Williams-Beuren-Patienten, denen eine Kopie dieses Gens fehlt.

Robert Czepel, science.ORF.at

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