Hinter den Kulissen des CERN

Die kanadische Teilchenphysikerin Pauline Gagnon hat ein Buch über das Kernforschungszentrum CERN geschrieben - und stellt darin auch einige unbequeme Fragen: Wie geht die Wissenschaftsgemeinde mit Minderheiten um?

Der Triumph, einige Rätsel und ein kritischer Blick hinter die Kulissen. Unter diesen Schlagworten könnte man die zehn Kapitel des nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Buches einordnen. Der Triumph – das war die Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012. Die Existenz des Teilchens, das der Materie ihre Masse verleiht, wurde bereits im Jahr 1964 vom Briten Peter Higgs vorausgesagt.

Pauline Gagnon

Pauline Gagnon

Das Buch

Pauline Gagnon: „Was kommt nach dem Higgs-Boson? Teilchenphysik, Large Hadron Collider und CERN verständlich gemacht“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2019.

Dass es bis zum Nachweis fast ein halbes Jahrhundert gedauert hat, liegt an Abhängigkeit dieses Faches von technischen Entwicklungen: Um Theorien überprüfen zu können, müssen sich die Physiker und Physikerinnen in immer extremere Energiebereiche vorwagen. Und das geht nur mit Maschinen, die an der Grenze des Machbaren errichtet wurden, in diesem Fall: mit dem Large Hadrone Collider (LHC). Wer wissen will, wie der LHC und seine Detektoren funktionieren, kommt bei der Lektüre von Gagnons Buch auf seine Kosten. Etwas knapper fallen die Kapitel über das (noch) Ungewisse aus.

Offene Fragen

Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons wurde das Standardmodell der Elementarteilchenphysik fulminant bestätigt, alles in der Theorie erwähnten Teilchen sind nun tatsächlich nachgewiesen. Nur kann dieser Erfolg letztlich nur eine Zwischenetappe zur „neuen Physik“ sein, eine Physik, die zum Beispiel auch erklären kann, warum es so wenig Antimaterie im Universum gibt, was Dunkle Materie und Dunkle Energie sind, warum einander Quantentheorie und Relativitätstheorie noch immer unversöhnlich gegenüberstehen – et cetera. Fragen gibt es genug und Antworten könnte, so bleibt zu hoffen, der LHC oder möglicherweise sein noch größerer Nachfolger liefern.

Fragen werfen auch Gagnons persönliche Erfahrungen am Kernforschungszentrum bei Genf auf. Was den Umgang mit Minderheiten betrifft, habe sich zwar einiges verbessert, so Gagnon, dennoch sei Homophobie oder die Benachteiligung von Frauen noch immer Teil dieser von Männern dominierten Wissenschaftsdisziplin.

Gesucht: Diversität

„Es ist schwierig, sich in eine Arbeitsgruppe zu integrieren, wenn man bei der simplen Erwähnung seines Partners oder seiner Partnerin Unbehagen empfindet oder wenn man bei der Bewerbung Diskriminierung fürchtet“, schreibt die Physikerin im Kapitel „Diversität in der Physik“. Im ORF-Interview vor einem Jahr äußerte sie sich deutlicher: „Ich selbst gehöre als Frankokanadierin, Frau, Feministin und Lesbe gleich mehreren Minderheiten an und hatte es wirklich nicht einfach, das kann ich ihnen sagen. Ich wurde von allen Seiten runtergemacht.“

Ihr Resümee im Buch ist dennoch ein versöhnliches: Diversität sei letztlich eine Chance, weil sie die Kreativität fördere. Und Kreativität kann die Physik zweifelsohne brauchen, wenn sie die großen Fragen, die es da gibt, beantworten will.

Robert Czepel, science.ORF.at

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