Kulturelle Evolution - gar nicht so rasant

Ob Popsongs oder Autos – Produkte der modernen Kultur verändern sich gar nicht so rasant wie oft angenommen. Laut den Berechnungen britischer Forscher ist die natürliche Evolution manchmal sogar schneller.

Was heute modern ist, kann morgen längst vergessen sein. Egal ob es sich um Musik, Kleidung oder Technik handelt – moderne Kultur scheint sich in hohem Tempo zu verändern. Anders als in vormodernen Zeiten – man denke etwa an die Entstehung von Sprachen – soll kulturelle Entwicklung heute sehr viel schneller verlaufen als natürliche Evolution. Unter anderem – so die These - weil Ideen schneller von Mensch zu Mensch wandern, als sich Gene in Organismen ändern können. Untersucht ist die weitverbreitete Ansicht allerdings kaum, wie die Forscher um Ben Lambert vom Imperial College London in ihrer kürzlich erschienenen Studie schreiben.

Die Studie

The pace of modern culture, Nature Human Behaviour, 20.1.2020

Meist stünden qualitative Aspekte im Mittelpunkt, wenn es um kulturgeschichtliche Veränderungen in den Künsten, der Wissenschaft oder der Technik geht. Das Ausmaß der Änderung pro Zeiteinheit zu quantifizieren, war allein aus praktischen Gründen lange schwierig. Digitalisierung und automatisierte Methoden machen es heute möglich, auch kulturelle Artefakte systematisch zu untersuchen. So lassen sich etwa Änderungen in der literarischen Gefühlswelt oder in der Popmusik aufspüren.

Popsongs wie Schnecken

Um das Tempo der kulturellen Evolution mit der natürlichen zu vergleichen, hat Lamberts Team nun vier moderne Kulturprodukte ausgewählt: Popsong der US-Billboard Top 100 von 1960 - mit Hits von Elvis Presley und Connie Francis - bis 2010 - hier finden sich z.B. Songs von Kate Perry und Eminem; US-amerikanische, britische und irische Romane in einer Auswahl des Stanford Literary Lab; wissenschaftliche Artikel aus dem British Medical Journal von 1960 bis 2008 und Automodelle, die zwischen 1950 und 2010 in den USA verkauft wurden. Das waren insgesamt 17.094 Lieder, 2.203 Romane, 170.577 Publikationen und 2.210 Autos.

Eminem bei einem Konzert in Frankreich

PIERRE ANDRIEU / AFP

Der Weg von Elvis Presley zu Eminem ist laut der Studie gar nicht so weit.

Innerhalb dieser Populationen finde natürlich keine sexuelle Fortpflanzung im engeren Sinn statt, aber dennoch gebe es eine Art Weitergabe von Generation zu Generation: Manche Merkmale werden verändert, andere verworfen, neue kommen hinzu und vor allem wird vieles neu kombiniert. Als Beispiel nennen die Autoren die vielen „Cross-Over“-Genres in der populären Musik, hier werde alles gemixt, sogar Country- mit Rapmusik.

Für den Vergleich mit der natürlichen Evolution wählten die Forscher eine 50-jährige sowie ein 40-jährige Studie zweier Nachtfalter (Schönbär, Panaxia dominula, Birkenspanner, Biston betularia), eine 40-jährige Studie der berühmten Darwinfinken und die 20-jährige Studie einer Schneckenart (Hain-Bänderschnecke, Cepaea nemoralis) – insgesamt war das eine Datenbasis von mehr als 300.000 Individuen. Wie die Forscher betonen, handelt es sich immer nur um einen Teil der tatsächlichen Gesamtpopulation. Das sei auch bei den Popsongs ähnlich. Nur jene, die es in die Top 100 geschafft haben, werden bei der Studie berücksichtigt.

Wie in der Biologie

Für die evolutionäre Veränderungen von Liedern, Romanen, Papers und Autos verwendeten die Forscher ein Set an Merkmalen: Bei den Popsongs waren es 100 musikalische Kriterien, die für Harmonie und Klangfarbe verantwortlich sind; für die Literatur und die wissenschaftlichen Artikeln eine inhaltliche Merkmalsliste; für die Autos Getriebeart und Größe. Um das Tempo der Entwicklung (Veränderungsrate pro Zeiteinheit in einem bestimmten Zeitintervall) zu berechnen, griff das Team auf eine Methode von J. B. S. Haldane. Er gilt als einer der Begründer der Populationsgenetik.

Die Analyse der kulturellen Artefakte zeigte einige Ähnlichkeiten mit der natürlichen Evolution: Unter anderem variiert die Evolutionsrate stark, z.B. sinkt sie, je länger der Zeitraum ist, den man betrachtet. Mit anderen Worten: Langfristig sind viele Eigenschaften viel stabiler, als man angesichts der kurzfristigen Änderungen annehmen könnte. Das könnte erklären, warum Popsongs - trotz der vielen neuen Interpreten, Lieder und Stilrichtungen – selten völlig neu klingen.

Am schnellsten von allen vier Artefakten verändern sich im Jahrestakt übrigens Autos: 1,3 mal so schnell wie Romane, 3,6 mal schneller als Popmusik und 8,1 mal schneller als wissenschaftliche Publikationen. Im 25-Jahr-Intervall verändern sich Autos ebenfalls am rasantesten.

Obergrenze der Veränderungen

Auch bei der Evolutionsrate entdeckten die Forscher tatsächlich Parallelen zur natürlichen Evolution. So gebe es – ähnlich wie in der Natur - bei den künstlichen Artefakten eine Obergrenze bei den Veränderungen pro Zeiteinheit. Sie lag sogar unter der Obergrenze jener natürlichen Organismen, die für die Untersuchung berücksichtigt wurden. Das heißt, manche organischen Eigenschaften ändern sich in dieser Stichprobe sogar schneller als die untersuchten kulturellen Merkmale.

Generell seien sich die kulturelle und die natürliche Evolution also überraschend ähnlich, zumindest gemessen an den verwendeten Daten. Wie die Studienautoren einschränken, gilt das wahrscheinlich nicht für das Tempo aller zeitgenössischen Entwicklungen, als Beispiel aus der Technologie nennen sie die Rechenleistung von Prozessoren.

Kulturelle Selektion

Was aber treibt die kulturelle Entwicklung an? Ist sie reiner Zufall? Laut den Forschern gibt es auch in der Kultur eine Art Selektion: durch jene, die die Artefakte produzieren, durch jene, die sie verbreiten bzw. verkaufen und durch jene, die sie kaufen bzw. konsumieren.

Warum sind die Veränderungen gemessen an den Möglichkeiten langfristig aber trotzdem recht gering? Auch dafür haben die Forscher eine Erklärung: Was langfristig wie ein Stillstand wirkt, sei eigentlich ein Hin und Her: Veränderungen heben sich im Lauf der Zeit immer wieder auf. In der Popmusik finden sich ebenfalls solche langfristig sehr stabilen Merkmale, z.B. sanfte und harmonische Stimmen sowie laute Gitarren. Aber auch solche können verschwinden, in der Natur passiert das durch plötzliche Umweltveränderungen, in der Kultur durch grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft. Als Beispiele nennen die Studienautoren die „Diener“ aus den Romanen des 19. Jahrhundert.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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