Warum Stress graue Haare macht

Nach Krankheiten oder seelischen Krisen können Menschen buchstäblich ergrauen. Biologinnen der Harvard University haben herausgefunden, was dabei im Körper passiert: Schuld daran sind Stresshormone.

Über Thomas Morus, Karl Marx und Marie Antoinette wird erzählt, dass ihre Haare über Nacht weiß geworden seien. Kann das stimmen? Dass so etwas über Nacht passieren soll, scheint unwahrscheinlich, weil die Harre zunächst auswachsen müssen, um ihre Farbe vollständig zu verlieren. Und das kann, je nach Frisur, dauern. Es sei denn, die pigmentierten Haare fallen plötzlich aus.

Stammzellen verausgaben sich

Dass Haare – ausgelöst durch Schock oder andere traumatische Erfahrungen – binnen Wochen oder Monaten ihre Farbe verlieren, halten jedenfalls Mediziner für plausibel. Beim „normalen“, alterungsbedingten Farbverlust sind die Vorgänge im Körper recht gut erforscht: Die Haarfarbe stammt von pigmentierten Zellen, so genannten Melanozyten, die ihrerseits von Stammzellen im Haarfollikel hergestellt werden. Wenn Menschen altern, nimmt die Zahl ebenjener Stammzellen ab.

Mann mit graumellierten Haaren

Adobe Stock - supaleka

Weiße Haare haben ihr Stammzellen-Depot aufgebraucht

Psychischer und körperlicher Stress fördert bekanntlich die Alterung - und er kann, wie nun Forscher um Ya-Chieh Hsu nachweisen, das Depot der Stammzellen in den Haarfollikeln auch direkt angreifen. Herausgefunden hat das die Harvard-Forscherin bei einem Experiment an Mäusen. Die Versuchstiere wurden verschiedenen Arten von körperlichem und seelischem Stress ausgesetzt, woraufhin sich in ihrem Fell kleine Flecken mit weißem Haar bildeten. Bei der Suche nach den Ursachen konnten Hsu und ihr Team zunächst ein paar Hypothesen aussortieren. Autoimmunreaktionen oder das Steroidhormon Cortisol sind entgegen bisheriger Vermutungen nicht verantwortlich, sehr wohl dürfte indes das Stresshormon Noradrenalin an der Entfärbung der Haare beteiligt sein.

Wie die Forscher im Fachblatt „Nature“ schreiben, dockt Noradrenalin über spezielle Rezeptoren direkt an den Stammzellen im Haarfollikel an und löst dort eine Massenmigration der Melanozyten aus. Das kann so weit gehen, dass sich die Stammzellen komplett erschöpfen. Ist das passiert, verlieren die Haare ihre Farbe.

Schädliches Noradrenalin

Soweit wäre das Phänomen schon gut beschrieben, doch Hsu und ihr Team gaben sich damit nicht zufrieden und suchten nach den Ursachen hinter den Ursachen. Wie zum Beispiel: Woher stammt das Noradrenalin? Die Antwort laut Studie: zum einen erwartungsgemäß von der Nebenniere; zum anderen aber auch von Neuronen des sympathischen Nervensystems. Womit sich der Kreis schließt, denn der Sympathikus übernimmt bei Gefahr oder Stress die Kontrolle und schaltet den Körper in den Alarmmodus.

Haar-Stammzellen und Nervenauswüchse unter dem Mikroskop

Bing Zhang & Ya-Chieh Hsu

Die Nerven des Sympathikus (pink) wachsen bis zu den Haarwurzeln

„Fight or flight“ heißt dieser Zustand im Englischen – er ist überlebenswichtig, kann aber bei extremen Belastungen auch schädliche Nebenwirkungen haben. Wobei „schädlich“ im Fall der Haarpracht relativ ist: Manche Forscher vermuten gar, dass der Zusammenhang von Stress und grauen Haaren von der Evolution verankert wurde, weil damit Lebenserfahrung äußerlich erkennbar wurde. Das könnte man zum Beispiel an Gorilla-Silberrücken untersuchen. Fragen wirft die Studie nicht zuletzt in medizinischer Hinsicht auf: Reagieren auch andere Stammzellen so sensibel auf Stress, etwa die des Immunsystems? Dass man bei übermäßigem Stress leichter krank wird, ist jedenfalls hinlänglich bekannt.

Robert Czepel, science.ORF.at

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