„Der Wahrheit verpflichtet“

Seit dieser Woche ist „Star Trek“-Captain Jean-Luc Picard auf Streamingdiensten wieder im Einsatz. Warum Figuren wie Picard und das Genre Science-Fiction an sich zum kritischen Denken anleiten können, beschreibt der Amerikanist Stefan Rabitsch in einem Gastbeitrag.

„Jeder Sternenflottenoffizier ist in erster Linie der Wahrheit verpflichtet. Ob es die wissenschaftliche Wahrheit, die historische oder die persönliche ist.“ Captain Jean-Luc Picard artikulierte damit den Grundtenor des positivistischen, wissenschaftsliteraten Weltbilds, welches das „Star Trek“-Universum seit nunmehr als 50 Jahren vermittelt. Mit über 700 Film- und Fernsehstunden der soeben begonnenen Serie „Star Trek: Picard“ (Trailer) und „Star Trek: Lower Decks“ in den Startlöchern ist dieses Science-Fiction-Universum ein Gigant der globalen Populärkultur. Seit dessen Genese hat „Star Trek“ zum kritischen und kulturellen Denken frei nach Immanuel Kants „sapere aude“ angeregt.

Porträtfoto von Stefan Rabitsch

St. Dominic Bonaparte

Über den Autor

Als selbstbekennender „Academic Trekkie“ ist der Amerikanist Stefan Rabitsch an der Karl-Franzens-Universität Graz tätig, wo er neben Science-Fiction vor allem US-amerikanische Kulturgeschichte beforscht und lehrt. Er hat das Buch „Star Trek and the British Age of Sail” geschrieben (McFarland Books).

Wenn man Science-Fiction in der neoliberalisierten Forschung und Lehre bzw. im breiteren Bildungsbetrieb antrifft, dann oft als Versuch, mittels dieser Erzählform mehr junge Menschen für MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zu rekrutieren. Der Einsatz von Science-Fiction zur Bewerbung einer Wissen(schaft)skultur ist natürlich legitim. Deren Anwendung im Umgang mit und der Lehre von den „Hard Sciences“ ist schon problematischer, da Science-Fiction eher selten die wissenschaftliche Methode wahrhaft einsetzt. Science-Fiction-Geschichten sind hingegen ein ideales Format, diese Bereiche um eine humanistisch-kulturelle Komponente, die im fehlgeleiteten MINT-Trugbild bisher maßgeblich zu kurz kam, zu erweitern. MINT kann und darf nicht im kulturellen Vakuum betrieben werden.

Was wäre, wenn?

Science-Fiction kann mehr, als stereotype Erwartungshaltungen - von Weltraumschlachten und Außerirdischen bis hin zu synthetischen Lebensformen und Lichtschwertkämpfen - zunächst vermuten lassen. Als Erzählform hat sie gegenüber anderen den Vorteil, dass sie die Basiselemente des kritischen Denkens sowie einen Anschein von Wissenschaftlichkeit sozusagen eingebaut hat. Science-Fiction lässt sich zur Gänze mit einer recht einfachen, jedoch intellektuell stimulierenden Frage beschreiben: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn Außerirdische tatsächlich auf der Erde landen würden? Was wäre, wenn sämtliche Elektronik auf einmal den Geist aufgeben würde? Was wäre, wenn ein Mensch aus der Steinzeit nie gestorben wäre und somit den Verlauf der menschlichen Geschichte bis heute miterlebt hätte? Letzteres ist die Prämisse des Films „The Man from Earth“ (Regie Richard Schenkman, 2007, Trailer), ein überzeugender Beispieltext, der sich zur Erklärung der Erzählform bestens eignet.

Premiere in London mit den Schauspielern und Schauspielerinnen: Harry Treadaway, Isa Briones, Sir Patrick Stewart (Captain Picard), Jeri Ryan, Jonathan Del Arco, Michelle Hurd und Evan Evagora

Joel C Ryan/Invision/AP

„Star Trek: Picard“-Premiere am 15. Jänner 2020 in London mit den Schauspielern und Schauspielerinnen: Harry Treadaway, Isa Briones, Sir Patrick Stewart (Captain Picard), Jeri Ryan, Jonathan Del Arco, Michelle Hurd und Evan Evagora

Was auf diese Frage(n) folgt, sind extrapolierte Gedankenexperimente. Science-Fiction bedient sich hierbei durchaus wissenschaftlicher Werkzeuge; man denke an Ernst Mach. Diese Gedankenexperimente lassen dann das Bekannte als unscharf bzw. fremd erscheinen. Es ist genau dieser Prozess der Ver-, Be- bzw. Entfremdung - im Brecht’schen Sinn -, der essenziell für das kritische Denken ist. Das Ziel ist es, eine Kapazität zu kultivieren, in der man imstande ist, sich einen Umstand, eine Begebenheit, einen Fakt von mehreren Blickwinkeln zu sehen und zu verstehen - Blickwinkel, die nicht unsere eigenen sind, an die wir zunächst nicht denken oder die wir ablehnen. „Das Verstehen ist“, laut den Vorlonen im „Babylon 5“ Universum, „ein dreischneidiges Schwert. Eure Seite, die Seite des Gegners und die Wahrheit.“ In dieser Erkenntnis liegt der Kant’sche Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Kritisches Denken ist nicht Schwarz-Weiß-Denken; kritisches Denken ist Grau-Denken.

Vor dem Start der neuen Picard-Serie wurde die U-Bahn-Station "Picadilly Circus" kurzfristig umbenannt

Reuters, Simon Dawson

Vor dem Start der neuen Picard-Serie wurde die U-Bahn-Station „Picadilly Circus“ kurzfristig umbenannt

„Star Trek“ als allegorisches Labor

Zurück zum „Star Trek“-Universum. Mit „Star Trek: The Original Series“ (US, 1966-69), hierzulande als „Raumschiff Enterprise“ bekannt, versuchte dessen Schöpfer, Gene Roddenberry, in den 1960ern gesellschaftspolitische und sozialkritische Geschichten in einer Fernsehlandschaft, die stark von der Zensur reguliert wurde, zu erzählen. Nachdem zu der Zeit Science-Fiction oft zum Kinder- und Jugendprogramm gezählt hatte, dachten er und sein Team, dass sie Geschichten, die den Kalten Krieg, Vietnam, die Bürgerrechtsbewegung, das Wettrüsten und vieles mehr mittels fantastischer Analogien aufgreifen, an den Zensoren sozusagen „vorbeischummeln“ könnten. Daraus ergab sich ein Kernbestandteil, der seither fixer Bestandteil der „Star Trek“-Erzählwelt ist. Mittels allegorischer Geschichten greift „Star Trek“ eine breite Themenpalette auf (z. B. verschiedene Formen der Diskriminierung, Ge- bzw. Missbrauch von Technologien und die damit verbundenen ethischen Herausforderungen, Ausbeutung von Arbeitskräften, Umweltverschmutzung und -zerstörung etc.).

Die Crew des Raumschiff Enterprise in Originalbesetzung, Archivfoto aus dem Jahr 1992

APA/Paramount/Paramount

Die Crew des Raumschiffs Enterprise in Originalbesetzung mit Captain Kirk und Mister Spock, 1992

Es gibt somit keinen Mangel an „Star Trek“-Geschichten, die kritisches Denken, Wissenschaftlichkeit sowie die Praxis einer Wissenskultur allegorisch thematisieren und vor allem als positiv konnotierten Modus Operandi darstellen. Eine Episode wie „Herkunft aus der Ferne“ aus der dritten Staffel von „Star Trek: Voyager“ ist ein gutes Beispiel dafür (Episodenausschnitt). Die Episode stellt folgendes Gedankenexperiment an: Was wäre, wenn es eine sauropode Zivilisation auf der Erde gegeben hätte, die sich in den Weltraum aufgemacht hat, bevor die Dinosaurier einer Klimakatastrophe zum Opfer wurden?

Auf genau eine solche Zivilisation - die Voth - trifft die Besatzung der „Voyager“. Dieser Kontakt führt dazu, dass ein Voth-Wissenschaftler, der die Belegung dieser Herkunftsthese zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, als Analogie zu Galileo Gallei fungiert. In weiterer Folge treffen empirische Forschung und angewandtes kritisches Denken auf ein theokratisches Machtgefüge und dessen doktrinären Deutungshoheit über die Geschichtsschreibung und die „Wahrheit“. Alles das wird in einer 45-minütigen TV-Episode verpackt.

Interdisziplinäre Praxis

Überdies präsentiert „Star Trek“ ein interdisziplinäres und holistisches Bild der wissenschaftlichen Praxis, dem man viel abgewinnen kann. In unserem spezialisierten, kompartmentalisierten und verwirtschaftlichten Wissenschaftsbetrieb ist Interdisziplinarität oft nicht mehr als ein inflationäres „Buzzword“. Nicht überall, wo es draufsteht, ist es tatsächlich drin. Das ist nicht, was „Star Trek“ uns präsentiert. Die unterschiedlichen Besatzungen sind ein Kollektiv von Spezialisten, die eine Bandbreite von Disziplinen abdecken. Um dem Entscheidungsträger, meist dem Raumschiffkapitän, die bestmögliche Entscheidungsgrundlage zu liefern, werden im Falle einer Problemstellung, eines Konflikts oder Ähnlichem verschiedene Expertenstimmen, mitunter auch disparate Beiträge, an den Tisch geholt.

Stefan Rabitsch trägt bei der „Star Trek“-Convention in Las Vegas vor

John NA Brown

Rabitsch bei der „Star Trek“-Convention in Las Vegas

Interdisziplinäre Vielfalt und Kooperation wird in der humanistisch geprägten Welt von „Star Trek“ also großgeschrieben. Es ist genau dieser gesamtwissenschaftliche Tenor, der es 2015 ermöglicht hat, dass 15 Vortragende aus elf verschieden Disziplinen für eine „Star Trek“- Ringvorlesung zusammenkamen, die in weiterer Folge in einem erweiterten Sammelband - „Set Phasers to Teach! Star Trek in Research and Teaching“ (Springer, 2018) - resultierte (Fortsetzung geplant). Dieselbe „Energie“ transportierte eine Gruppe von WissenschaftlerInnen zum “Teaching with Trek”-Programm bei der „Star Trek“-Convention in Las Vegas 2019. Mittlerweile ist dieses Programm auch Bestandteil der offiziellen „Star Trek“- Conventions in Europa.

Das „Star Trek“- Universum ist natürlich nicht wertfrei. Wir wären als kritische Denker nachlässig, wenn wir die kritische Linse nicht auf die „Star Trek“-Welt selbst richten. Neben einer idealisierten Militärhierarchie, latenter kolonialer Strukturen und imperialen Machtgefügen sowie einem ausgeprägten Anglozentrismus gibt es mit „Star Treks“ oft naiver, technologieaffiner Eschatologie und selektiver Inklusion einige Ansatzpunkte. Dennoch scheint „Star Trek“ mit seinem zentrifugalen Weltbild und seiner optimistischen Wissenskultur anderen namhaften Science-Fiction-Universen Lichtjahre voraus zu sein. In diesem Sinne: Live Long and Prosper!

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