Demokratie galt nie für alle

Wer sich heute darum sorgt, dass die Demokratie in Gefahr ist, kann beruhigt sein, meint der Soziologe Stephan Lessenich: Sie war nie das, was sie versprochen hat. Jedenfalls nicht für alle.

Die Demokratie und ihre Zukunft, das ist derzeit immer wieder ein Sorgenthema, nachzulesen in den Medien und in den Sozialen Netzwerken. Eine Umfrage ergab im vergangenen Jahr: Ganze vierzig Prozent der befragten Österreicherinnen sorgen sich um die Zukunft der Demokratie. Die Bedrohungen scheinen dabei von vielen Seiten zu kommen: von Rechtspopulisten genauso wie von einem neoliberalen Wirtschaftssystem, der unkontrollierbaren Zuwanderung oder gar den bevormundenden Klimaaktivistinnen. Doch war früher wirklich alles besser?

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Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 29.1. um 13:55

Stephan Lessenich von der Ludwig–Maximilians-Universität München bezweifelt das. Der Soziologe war gerade Gast in Wien an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er geht von einem erweiterten Demokratiebegriff aus – Demokratie als eine Gesellschaftsform, in der alle gleichermaßen an gesellschaftlichen Entscheidungen teilhaben dürfen.

Wer heute von der Krise der Demokratie spreche, der sehe oft die frühen 1970er Jahre als politischen Idealzustand vor sich, meint Lessenich. Damals gab es stabile Arbeitsplätze, eine gute soziale Absicherung, eine relativ homogene Gesellschaft und starke Gewerkschaften. Allerdings hatten auch früher nicht alle Menschen ohne weiteres Zugang zu dieser gleichberechtigten Welt, meint er. Frauen zum Beispiel waren – und sind bis heute immer noch teilweise – in der Arbeitswelt benachteiligt. Lange Zeit hatten sie auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nicht die gleichen Rechte wie Männer. Aber auch Gastarbeiter hatten kaum Mitbestimmungsrechte.

Die Angst des weißen Mannes

Die Vorstellung, dass es einmal einen Höhepunkt der Demokratie gegeben habe und wir jetzt auf einem absteigenden Ast sind, die finde sich „vor allem bei denen wieder, die damals im Kern des Geschehens standen und vielleicht tatsächlich den Eindruck haben, jetzt drängen andere nach und wollen auch demokratische Teilhaberechte - Frauen, Migranten und so weiter, und dabei geht’s mir an den Kragen“, meint Stephan Lessenich.

Die westliche Demokratie habe sich zwar immer für die Gleichberechtigung aller Menschen gerühmt und sei in aller Welt dementsprechend moralisierend aufgetreten. In Wirklichkeit sei sie schon immer von Grenzen durchzogen gewesen. Politische, ökonomische und soziale Berechtigungsräume seien für die einen offen gewesen, für die anderen eben verschlossen. Stephan Lessenich sieht in der Gegenwart keine besondere Krise der Demokratie, sondern eher einen ganz normalen Verteilungskampf um Berechtigungen – und eben um die Verweigerung von Berechtigungen: „Ich würde eher sagen das ist das Zeichens einer lebendigen Demokratie, wenn diejenigen, die noch ausgeschlossen sind oder wieder ausgeschlossen werden sollen, ihre Teilhabe reklamieren“.

Arbeit und Wahlrecht demokratisieren

Probleme der Gegenwart sieht Stephanich Lessenich trotzdem einige. Die Wirtschaft etwa sei ein Bereich, der bei uns von der Demokratie enthoben ist. „Vor allem die Arbeitsbedingungen – fast niemand in der Gesellschaft kann sie selbst bestimmen, die allermeisten sind abhängig beschäftigt und da bestimmen andere darüber, was man jeweils zu tun hat, wie lange und für welchen Lohn“.

Die Tendenz der Prekarisierung gehe besonders weit weg von dem, was man sich unter demokratischer Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Lebensweit vorstellt. Vor allem aber ist es die Ausweitung des Wahlrechts, die für Stephan Lessenich ganz oben auf der Prioritätenliste steht. „Viele Menschen sind heute nicht demokratisch berechtigt, weil sie als Nichtstaatsbürgerinnen keine Wahlberechtigung haben in dem Land, in dem sie ihr Leben verbringen“. Das sei jedoch elementar, um die Lebensverhältnisse mitzubestimmen, so Lessenich.

Globale Frage

Die Demokratie wird aber auch von jenen eingefordert, die weit weg leben: „Ich glaube, dass immer mehr Menschen ihre Rechte einfordern und sich nicht mehr damit abfinden, dass sie ausgeschlossen sind - von den hier normalen Lebensverhältnissen - und anderswo ihr Leben fristen müssen, unter Umständen, die für uns nicht vorstellbar sind“, meint Stephan Lessenich.

Demokratie ist kein fixer Idealzustand, sondern muss von den Menschen ständig neu ausgehandelt werden, meint Stephan Lessenich –in 50 Jahren könnte das etwa so aussehen, dass auch der Natur mehr Rechte eingeräumt werden. Denn während in unserer Demokratie soziale Grenzen beseitigt werden müssten, bräuchten wir auch Grenzen im Umgang mit der Natur. „Bei der Ausbeutung unserer Lebensgrundlage, da wäre wiederum eine Begrenzung angesagt“.

Hanna Ronzheimer, Ö1-Wissenschaft

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