Indigenes Volk: Mitglied der Aeta  hält eine Heilpflanze in der Hand
Rodolph Schlaepfer
Rodolph Schlaepfer
Anthropologie

Jäger und Sammler nutzen „soziales Internet“

Wie tauschen Nomaden Ideen aus, wie gelingen ihnen neue Erfindungen? Das haben jetzt Wissenschaftler bei Jägern und Sammlern aus Südostasien untersucht – und überraschende Parallelen zum Internet gefunden.

Das Volk der Agta lebt isoliert im Norden der Philippinen auf der Insel Luzon. In den kleineren Gruppen gibt es Familien und nicht verwandte Gruppenmitglieder, die in dem untersuchten Gebiet in verschiedenen Camps leben. Diese sind wiederum miteinander befreundet und einzelne Gruppenmitglieder wandern zwischen den Gruppen auch hin- und her.

Daraus ergibt sich eine veränderliche Struktur mit mehreren sozialen Ebenen. Das lässt sich zwar auch bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, beobachten. Sie haben allerdings keine komplexere Kultur entwickelt oder größere Innovationen hervorgebracht.

Sozialbeziehung im Computer simuliert

Um zu verstehen, wie sich die verstreut lebenden Agta untereinander austauschen, stattete das Team unter der Leitung von Forschern der Universität Zürich und der Central European University (CEU) in Budapest 53 Erwachsene aus sieben Camps mit Tracking-Geräten aus, die ihre Bewegungen und Begegnungen aufzeichneten. Das geschah über einen Monat hinweg, wie es in einer Aussendung der Uni Zürich zu der im Fachjournal „Science Advances“ erschienen Studie heißt.

Wie Kultur entsteht

Warum haben Schimpansen eine viel einfachere Kultur entwickelt als der Mensch? Die Hypothese der Forscher lautete: Der entscheidende Unterschied liegt in der Sozialstruktr.

Wenig verwunderlich, wurden die meisten Kontakte innerhalb der eigenen Gruppe verzeichnet. Es gab aber auch fast täglich Besuche in anderen Camps. Für die Erstautorin der Studie, Andrea Migliano von der Uni Zürich, ist das mit modernen Formen der Informationssuche vergleichbar: „Wenn wir eine Lösung für ein Problem brauchen, gehen wir online und holen uns Informationen aus mehreren Quellen. Die Agta nutzen ihr soziales Netzwerk auf genau die gleiche Weise.“

Test: Suche nach Heilmittel

In der Folge bildeten die Wissenschaftler, zu denen auch Vito Latora vom Complexity Science Hub Vienna gehört, das gesamte soziale Netzwerk der untersuchten Agta-Gruppen in einer Computersimulation nach. In der Simulation gab es verschiedene Heilpflanzen, deren Wirkung sich verbessern ließ, wenn die Akteure im Netzwerk sie miteinander auf bestimmte Weise kombinierten. Aus den dann besseren Medikamenten konnte bei erneuter geschickter Kombination ein neues, hochwirksames Heilmittel gemacht werden.

Indigenes Volk: Mitglied der Aeta  schneidet das Blatt einer Heilpflanze
Rodolph Schlaepfer

Die Wissenschaftler führten dann Simulations-Experimente in dem natürlich gewachsenen Agta-Netzwerk und in einem künstlichen Netzwerk durch, in dem alle Mitglieder immer und gleichzeitig alle Information zur Verfügung hatten. Nach der Interaktionsrunde, in der das bestmögliche Heilmittel gefunden wurde, waren die Simulationen zu Ende.

Zur Überraschung der Wissenschaftler ging das im Agta-Netzwerk im Durchschnitt schneller. Während die simulierten Jäger und Sammler-Gesellschaften in der Regel zwischen 250 und 500 Runden mit sozialen Interaktionen brauchten, bis das Heilmittel gefunden war, dauerte dies im vollständig informierten Netzwerk in Schnitt zwischen 500 und 700 Runden.

Erfolgsgeheimnis unserer Vorfahren?

Das liegt laut den Forschern darin begründet, dass im Agta-Netzwerk zwar nicht immer alle am gleichen Stand sind, die einzelnen Untergruppen aber auch unabhängig voneinander verschiedene Vorstufen zum „Superheilmittel“ entwickeln können. Unter diesen Voraussetzungen ist die Wahrscheinlichkeit insgesamt höher, dass dann bei einem Zusammentreffen die gesuchte Kombination plötzlich gefunden wird und somit quasi ein Innovationssprung stattfindet.

„Unsere Resultate deuten also darauf hin, dass eine soziale Struktur aus kleinen, miteinander vernetzten Gemeinschaften die kulturelle Entwicklung unserer Vorfahren erleichtert hat, während sie sich innerhalb und außerhalb von Afrika ausbreiteten“, so Lucio Vinicius von der Uni Zürich. Die Forscher sehen in diesen gesellschaftlichen Abläufen einen entscheidenden Faktor für die bereits in der Steinzeit greifbare Weiterentwicklung der Menschheit.