Baumstämme und Erde: Gerodete Flächen im Regenwald
©guentermanaus – stock.adobe.com
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Amazonas-Regenwald

49 Jahre bis zur Katastrophe

Der Amazonas-Regenwald könnte laut neuesten Berechnungen innerhalb von 49 Jahren kollabieren – und sich vollständig in eine Graslandschaft verwandeln. "Das gesamte Ökosystem beginnt zu kippen“, sagt der britische Umweltforscher Simon Willcock.

Als zwischen 1950 und 1980 die Niederschläge in der Sahelzone zurückgingen, begann die grüne Zone südlich der Sahara zu schrumpfen. Sie wurde der Wüste einverleibt, jedes Jahr ein Stück weiter. Ähnliches ereignete sich ab den 1980er-Jahren im Karibischen Meer. Hier sind, verursacht durch Überfischung, Verschmutzung und Übersäuerung des Wassers, mittlerweile 85 Prozent der Korallenriffe verschwunden.

Dass sich an dieser Stelle einst ein Hotspot der Artenvielfalt befunden hat, weiß nur, wer diese Unterwasserlandschaft vor Jahrzehnten gesehen hat: Heute ist das Bunt einem monotonen Braungrün gewichen, es gibt Algen zu sehen – und sonst nicht viel.

5,5 Mio. Quaratkilometer betroffen

Simon Willcock betrachtet solche Kippeffekte aus systemischer Sicht. Der Umweltforscher und Geograph möchte vor allem zwei Fragen beantworten: Was erzählen uns solche Fälle über die Stabilität von Ökosystemen? Wie lange können sie dem Raubbau und der Zerstörung noch standhalten?

Willcock hat sich in seiner letzten Studie in der Natur bedient und Daten in Regionen gesammelt, wo die ursprünglichen Ökosysteme bereits verschwunden sind. Sahelzone, Karibisches Meer, Alaska, Südaustralien – seine Sammlung umfasst mehr als 30 ökologische Problemzonen weltweit, auch die Alte Donau in Wien hat er in seine Liste aufgenommen: In dem nährstoffarmen Altarm des Hauptstromes kam es ab den 1990er-Jahren durch Überdüngung zu Algenplagen, die man heute durch chemische Gewässertherapie zumindest halbwegs wieder in den Griff bekommen hat.

Das Ergebnis der kontinentalübergreifenden Analyse: Große Ökosysteme halten dem Druck länger stand als kleine, aber nicht so lange, wie man erwarten würde. 20.000 Quadratkilometer große Korallenriffe können laut Willcocks Berechnungen innerhalb von 15 Jahren komplett verschwinden. Beim Amazonas-Regenwald würde es 49 Jahre dauern – betroffen wären in diesem Fall 5,5 Millionen Quadratkilometer, mehr als alle EU-Mitgliedsstaaten an Fläche zusammen haben.

Luftbild: zerstörte Regenaldflächen in der Nähe von Boca do Acre, im Nordwesten Brasiliens
LULA SAMPAIO / AFP
Rodungen in Boca do Acre, Nordwestbrasilien

„Das Problem ist, dass solche Veränderungen kaum rückgängig gemacht werden können“, sagt Willcock im ORF-Interview. „Die Korallen aus einem Riff zu entfernen ist einfach. Dann bleibt ein Algen-Ökosystem übrig. Aber die Korallen wieder anzusiedeln, ist ungleich schwieriger.“ Der Weg zurück zum Ursprungszustand wäre auch im Falle des Amazonas-Regenwaldes schwierig bis unmöglich, betont Willcock. „Wenn der kritische Schwellenwert einmal überschritten wurde, dann wird aus dem Regenwald eine Savannenlandschaft.“

Schwelle schon überschritten?

Wie weit diese Schwelle entfernt ist und wie viel Zeit der Menschheit noch bleibt, um das Schlimmste zu verhindern, ist derzeit Gegenstand von Debatten. Eine pessimistische Prognose war Ende letzten Jahres im Fachblatt „Science Advances“ nachzulesen. Da berichteten die beiden Umweltforscher Thomas Lovejoy und Carlos Nobre, dem Regenwald hätten Brände und Abholzung bereits so zugesetzt, dass auch der Wasserkreislauf substanziell in Mitleidenschaft gezogen sei. Dass sich im Süden und Osten Amazoniens tropische Savannen bilden werden, sei somit kaum noch zu verhindern. Umweltschutzmaßnahmen gelte es jetzt zu setzen, dies sei die „letzte Chance“.

Willcock sieht das ähnlich. „Wir befinden uns bedenklich nahe am kritischen Schwellenwert. Der Amazonas-Regenwald nimmt seit den 1990er-Jahren immer weniger CO2 aus der Atmosphäre auf. Das ist ein Zeichen dafür, dass das System zu kippen beginnt – oder es vielleicht schon tut.“

Als Lichtblick kann man immerhin werten, dass Willcock in seiner jüngsten Studie Ansatzpunkte für den Naturschutz aufzeigt. In jedem Ökosystem gibt es Arten, von denen das Wohl der Tiergemeinschaft – und letztlich von allen Lebewesen abhängt. „Keystone species“ heißen diese Arten, in vielen Regionen sind es Raubtiere, wie etwa der Wolf oder der Jaguar, die durch ihre Existenz alles zusammenhalten. Aber nicht nur: Im Amazonas-Regenwald spielen etwa relativ unauffällige Nagetiere, Agutis, eine ähnliche Schlüsselrolle. „Auf solche Arten müssen wir uns beim Naturschutz als erstes konzentrieren“, sagt Willcock. „Wenn die einmal weg sind, dann geht es schnell bergab.“