Eine Frau spaziert mit einer Atemschutzmaske
AFP – JUSTIN TALLIS
AFP – JUSTIN TALLIS
Slavoj zizek

„Solidarität heißt heute: Abstand halten“

Solidarität ist in Zeiten des Coronavirus paradox. „Ich bin heute mit dir solidarisch, indem ich dir nicht zu nahe komme“, sagt Slavoj Zizek. Der slowenische Philosoph hält die aktuelle Situation für sehr gefährlich, kann ihr aber sogar ein paar positive Aspekte abgewinnen.

Für die ältere Nachbarin einkaufen gehen, auf die Kinder nebenan aufpassen oder andere mit einem Lied vom Balkon aufmuntern: Beispiele wie diese hat es in den vergangenen Tagen zuhauf gegeben. Sie beweisen, dass viele Menschen auch in Quarantäne-Zeiten zu Kreativität und Selbstlosigkeit neigen.

Sind sie gar die Folgen einer „seltsamen metaphysischen Hoffnung“, die Slavoj Zizek nach eigenen Angaben hegt? „Jetzt ist die Zeit der Reflexion“, sagt der Philosoph vor dem Home-Office-Computer in Ljubljana beim science.ORF.at-Interview. „Vielleicht beginnen die Leute, die zuhause herumsitzen müssen, nun ja ein wenig an nachzudenken, statt nur dumme Filme anzuschauen.“

Slavoj Zizek beim Skype Interview
ORF – Lukas Wieselberg
Zizek im Skype-Interview

Paranoia oder Gemeinschaftsgefühl?

Natürlich könnte es auch anders kommen, sagt Zizek, und die Isolation neue Formen von Paranoia erzeugen. Die zahlreichen Verschwörungstheorien, die im Netz kursieren, sprechen dafür; auch die jüngsten Schuldzuweisungen über den Ursprung des Virus zwischen den USA und China.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 18.3., 13:55 Uhr.

Im besten Fall aber wachse mit der Krise ein neues Gemeinschaftsgefühl, so Zizek – eine neue Art kommunistisches Denken, das „freilich nichts mit dem historischen Kommunismus der Sowjetunion zu tun hat“, sondern eher mit der banalen Feststellung: „Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wir brauchen eine globale Koordination und Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Virus.“ Etwas, das die Weltgesundheitsorganisation lange vorschlägt, und was es real nicht gibt – nicht einmal in der Europäischen Union.

„Die EU hat sich in der Angelegenheit lächerlich passiv verhalten. Sie hätte schon vor Wochen eruieren können, welche Länder welche Werkzeuge benötigen – fehlende Schutzmasken, Atemgeräte etc. – und entsprechend reagieren können. Das war vorhersehbar.“

Rechts trifft links

Um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, wurden nun sinnvollerweise Grenzen geschlossen und Quarantäne-Regionen abgeriegelt. Der politische Schluss aus der Pandemie ist für Zizek aber klar: Nationale Alleingänge funktionieren bei grenzüberschreitenden Problemen nicht, „America – oder was auch immer – first, das ist vorbei“. Der nationalistische Populismus, der auf staatliche Souveränität pocht, stoße an seine Grenzen. Das sei nicht das Urteil eines Utopisten, der an eine idealisierte Solidarität von Menschen appelliert. „Im Gegenteil“, sagt Zizek, „die aktuelle Krise zeigt, wie globale Solidarität und Zusammenarbeit im Überlebensinteresse von uns allen und das einzig Rationale und Egoistische sind, was man tun kann.“

Die rechten Populisten dieser Welt treffen sich mit ihrem Coronavirus-Zaudern und Widerwillen zu Handlungen ironischerweise mit einer bestimmten Kritik mancher linker Intellektuellen, wie z.B. jener von Giorgio Agamben. Der italienische Philosoph hatte die Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit Ende Februar in einem Zeitungsbeitrag als „unmotiviert und irrational“ bezeichnet (hier eine englische Übersetzung). Agamben interpretierte die drastischen Einschränkungen persönlicher Freiheiten als Beweis für die Richtigkeit seiner These, wonach der Ausnahmezustand zur normalen Form des Regierens werde. Slavoj Zizek hält dem eine rhetorische Frage entgegen: „Ist es wirklich im Sinne von Staatsmacht und Kapital, ein Weltwirtschaftskrise auszulösen, um ihre Form des Regierens zu erneuern?“

Paradox der Solidarität

Das Gebot der Stunde sei paradox: „Ich zeige dir heute Solidarität, indem ich dir nicht zu nahe komme – das ist wahre Solidarität“. Zizek hält das für eine so grundlegende Veränderung des Verhaltens, dass sie den aktuellen Krisenfall überdauern wird. Das Normal vor Corona werde nicht das Normal nach Corona sein, prophezeit der Philosoph. „Das wird eine fast metaphysische Herausforderung sein. Viele Dinge im Alltag, die uns selbstverständlich schienen – Leute treffen, Freunden vertrauen, – werden sich ändern. Wir werden uns der Gefahren zu großer Nähe zu anderen viel bewusster sein.“

Beim Skype-Interview nach Ljubljana gibt er übrigens auch noch einen praktischen Tipp für alle: Beschränken Sie den Konsum von Corona-Nachrichten pro Tag, um sich die Laune nicht allzu sehr verderben zu lassen. Er selbst hat sich eine Grenze von drei Stunden auferlegt.