Gruppe von Freundinnen und Freunden im Gegenlich auf einem Hügel bei Sonnenuntergang halten sich an den Händen
cppzone – stock.adobe.com
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Geschlechterdifferenz

Sozialleben prägt das Gehirn

Gibt es ein typisch weibliches bzw. männliches Gehirn? Diese Frage ist in der Wissenschaft höchst umstritten. Eine Studie mit 10.000 Gehirnscans meint nun: Ja, gibt es. Das liege aber nicht am Körper oder den Hormonen, sondern daran, wie das Sozialleben Männer und Frauen jeweils formt.

Unser Hirn ist deswegen so groß, weil wir in größeren Sozialverbänden leben – das besagt zumindest die „Social-brain-hypothesis“ des britischen Anthropologen Robin Dunbar. Demnach verdankt der Mensch seine Intelligenz primär dem Leben in zunehmend komplexeren Sozialstrukturen. Tatsächlich findet man bei vielen Primaten inklusive dem Menschen einen Zusammenhang zwischen Gehirn- und Gruppengröße. Auch manche kommunikativen Fähigkeiten sind in größeren Verbänden meist stärker ausgeprägt, z.B. die Fähigkeit, die Handlungen anderer vorherzusehen.

Laut den Forscherinnen und Forschern um Hannah Kiesow von der Universität Aachen gibt es Hinweise, dass dieses „soziale Gehirn“ beim männlichen und beim weiblichen Geschlecht anders geprägt ist; das liege vermutlich an der jeweiligen Rolle in der Gemeinschaft. So kümmern sich etwa bei den meisten Affenarten die Weibchen um den Nachwuchs, sie pflegen auch häufiger andere Sozialkontakte. Bei Männchen stehen in der Regel Machtverhältnisse und Dominanz im Mittelpunkt.

Sozialleben und Gehirn

Ein Zusammenhang mit den Hirnstrukturen von Menschen ist bisher allerdings erst in kleinen Stichproben untersucht. Für die nun in „Science Advances“ erschienene Studie hat Kiesows Team Daten und Gehirnscans von mehr als 10.000 Individuen aus der UK Biobank verwendet. Untersucht wurde, ob es einen Zusammenhang zwischen Sozialleben und Lebensstil mit dem Aufbau und der Größe von 36 Gehirnregionen – die insgesamt bereits in fast 4.000 Einzelstudien untersucht wurden – gibt, und ob sich in dieser Hinsicht tatsächlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen ausmachen lassen.

Bei den sozialen Daten war unter anderem erfasst, ob die Menschen in größeren Familienverbänden oder allein leben, ob sie einem Beruf mit vielen Sozialkontakten nachgehen, ob sie viele Freunde haben, in Vereinen engagiert sind und wie zufrieden sie mit all diesen Beziehungen sind.

Reichhaltiges Umfeld

Die Auswertung bestätigte: Das Gehirnvolumen war in manchen Regionen größer, wenn das Individuum in einem reichhaltigen sozialen Umfeld lebt – also je häufiger, vielfältiger und intensiver die Kontakte waren. Wie und wie sehr sich das Sozialleben auf die Anatomie auswirkt, dürfte aber tatsächlich auch mit dem Geschlecht zu tun haben. So war z.B. die Amygdala – eine Region, die für das Gefühlsleben sehr wichtig ist – bei Frauen im Verhältnis deutlich größer als bei Männern, wenn sie einen Haushalt mit vielen Personen teilen oder wenn sie viele enge Sozialkontakte haben.

Auch in einem Bereich des Frontallappens – hier sind Kontrollmechanismen, abstraktes und rationales Denken verankert – fanden sich bei geselligen bzw. einsamen Frauen stärkere Veränderungen gegenüber dem Durchschnitt als bei Männern. „Das könnte damit zu tun haben, dass sie vielleicht – mehr als viele Männer – über die Situation nachdenken“, schreiben die Forscherinnen und Forscher in ihrer Studie.

Auch Zufriedenheit mit und Vertrauen in Freundschaften hatten im Frauenhirn größere Auswirkungen – in emotionalen wie in rationalen Bereichen.

Soziale Belohnung

Auf der anderen Seite spiegeln sich soziale Erfahrungen bei Männern stärker in neuronalen Belohnungszentren, besonders deutlich war das bei Männern mit niedrigem Einkommen. D.h., gute Sozialkontakte lösen bei ihnen anscheinend eher Gefühle der Belohnung bzw. Anerkennung aus.

Bei sozial gut eingebetteten Frauen gibt es wiederum mehr Veränderungen in Gehirnregionen, die mit der unteren Wahrnehmungsebene in Zusammenhang stehen, also beispielwweise beim Hören oder Sehen. Bei Männern sieht man diesen Zusammenhang nicht, schreiben die Autorinnen und Autoren. Das könnte erklären, dass Frauen oft besser in Gesichtern lesen können.

Natürlich handle es sich lediglich um graduelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Auch die Debatte „Natur oder Umwelt“ lasse sich auf Basis der Studienergebnisse nicht endgültig beantworten oder entflechten. Vermutlich bleibt es ein ineinander verwobenes Wechselspiel. Der tägliche soziale Austausch mit Familie, Freundinnen und Kollegen dürfte sich jedenfalls unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirken – für die Forscherinnen und Forscher ein Ausdruck dafür, dass der Mensch offenbar geschlechtsspezifische Strategien entwickelt hat, um die soziale Welt zu meistern.