Junger Mann mit Atemmaske
YURI KADOBNOV / AFP
YURI KADOBNOV / AFP
Coronakrise

Wie lange dauert das noch?

Wird es gelingen, die Corona-Epidemie in Österreich unter Kontrolle zu bringen? Über Erfolg und Misserfolg entscheidet auch das Tempo der Forschung: Es braucht mehr Daten, mehr Virustests und mehr Evidenz. Für den Lockdown wird zumindest ein Zeithorizont sichtbar.

In Bezug auf das Coronavirus sind wir alle Kinder. „Immunologisch naiv“ nennen Ärzte diesen Zustand: Der Körper von Kindern verfügt über keinerlei Vorerfahrungen mit Viren – und muss erst während der Infektionen lernen, mit welchen Mitteln ihnen beizukommen ist.

Nicht unähnlich ist die Situation momentan für die Wissenschaft. Sie hat bei der Bekämpfung der Lungenkrankheit COVID-19 weder Zeit, noch kann sie auf klinische Studien zurückgreifen. Ob die an anderen Viren gewonnenen Erkenntnisse auf den neuartigen Erreger SARS-CoV-2 übertragbar sind, ist unklar. Wie vieles andere auch: Könnten bereits zugelassene Medikamente gegen COVID-19 helfen? Wie hoch ist die Prozentschwelle der Herdenimmunität? Wie viele Menschen erkranken ohne Symptome? Und sind diese „Asymptomatischen“ auch ansteckend?

Die Kurve abflachen

Antworten auf diese Fragen wären auch für Systemtheoretiker und Mathematikerinnen wichtig, die derzeit versuchen, den Verlauf der Epidemie vorherzusagen. Niki Popper von der Technischen Universität (TU) Wien arbeitet mit seinem Team derzeit rund um die Uhr, um die am Computer gewonnenen Prognosen mit der Realität abzugleichen – und somit verlässlicher zu machen. „Momentan versuchen wir herauszufinden, ob die bisher gesetzten Maßnahmen greifen. Der tägliche Zuwachs von Erkrankungen ist in Österreich von 40 auf 20 Prozent gesunken. Damit sind wir zwar noch immer in einer exponentiellen Wachstumsphase, aber es sieht nicht schlecht aus“, sagt der Wissenschaftler vom TU-Institut für Information Systems Engineering. „Jetzt kommt es darauf an, dass die Österreicherinnen und Österreicher weiterhin ihre Sozialkontakte einschränken.“

Blick in die Infektionsabteilung und Isolierstation im Kaiser-Franz-Josef-Spital.
APA/HELMUT FOHRINGER
Die Kapazitäten an Österreichs Krankenhäusern sind noch nicht erschöpft

Der von der Regierung verordneten Maßnahmen bleiben bis zum 13. April aufrecht. Der gemäßigte Lockdown in ganz Österreich hat zunächst ein Ziel: Die Wachstumskurve der Erkrankungen soll sich so schnell wie möglich abflachen, um das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren. Was passiert, wenn die Krankenhäuser schwer Erkrankte wegen überlasteter Kapazitäten nicht mehr behandeln können, zeigt sich derzeit in der Lombardei. Dort müssen Mediziner regelmäßig Triagen vornehmen – sie müssen entscheiden, wen sie an ein Beatmungsgerät anschließen und wen sie dem Schicksal überlassen. Das will man hierzulande mit allen Mitteln verhindern. Es gilt, Zeit zu gewinnen. Zeit, die auch die Wissenschaft braucht, um herauszufinden, wie es nach dem 13. April weitergehen soll.

Zwei Szenarien

Letzte Woche hat der britische Epidemiologe Neil Ferguson in einer Studie zwei Szenarien verglichen. Das eine nennt er „mitigation“, das andere „suppression“. Ersteres bedeutet so viel wie: Man versucht die Erkrankungswelle einzudämmen, gewinnt mit den gesetzten Maßnahmen aber keine vollständige Kontrolle über die Lage. Die Strategien, die Großbritannien und die USA derzeit verfolgen, fallen in diese Kategorie – sie würden laut Fergusons Berechnungen die Kapazitäten der intensivmedizinischen Stationen selbst im optimalen Fall um den Faktor acht überlasten und letztlich zu 250.000 respektive 1,1 Millionen Todesfällen führen. Eine halbherzige Intervention wäre immerhin besser als nur auf die Selbstheilung der Bevölkerung zu setzen, auch bekannt als Herdenimmunitäts-Strategie (wie ursprünglich in Großbritannien geplant). In diesem Fall wäre die Zahl der Todesfälle nämlich doppelt so hoch.

Österreichs Strategie orientiert sich an der „suppression“, zu Deutsch etwa: wirkungsvolle Unterdrückung. Dass so etwas möglich ist, haben Südkorea, Japan und Singapur vorgezeigt. Eine Schlüsselrolle spielte in diesen Ländern die flächendeckende Testung der Bevölkerung. Auf diese Weise konnten Erkrankte und ihr soziales Umfeld schnell isoliert und das Virus an der weiteren Ausbreitung gehindert werden. So ein flächendeckendes Screening wurde in den europäischen Ländern bisher nicht durchgeführt. Das bedeute aber nicht, dass damit der Zug abgefahren sei, betont Popper. „Wenn es uns gelingt, die Epidemie wirkungsvoll einzudämmen, könnten wir mit Tests ein klares Bild von der Situation gewinnen.“

Drei bis sieben Wochen Lockdown?

Wie lange das dauern könnte, hat der Wissenschaftsblogger Tomas Pueyo in einer aktuellen Zusammenschau von Statistiken abgeschätzt. Ihm zufolge würde ein Lockdown von drei bis sieben Wochen ausreichen, um die Systeme wieder langsam hochfahren zu können. Nach dieser mehrwöchigen Akutphase wäre COVID-19 zwar noch nicht besiegt, doch nach erfolgreicher „suppression“ könnte die Politik kurzfristig auf neuerliche Erkrankungswellen reagieren und nur dort Maßnahmen setzen, wo es absolut nötig ist. Das wäre nicht zuletzt deshalb erstrebenswert, weil Eingriffe in die Freiheitsrechte – Ausgangssperren etwa – nicht beliebig lange durchsetzbar sind.

Für einen konsequent und zügig absolvierten Lockdown sprechen auch wirtschaftliche Argumente. In Deutschland gehen Ökonomen davon aus, dass sich die Wirtschaftsleistung gegenwärtig auf 50 Prozent des Normalniveaus befindet. Prognosen für Österreich sollen diese Woche folgen. Das 38 Milliarden Euro umfassende Hilfspaket der österreichischen Bundesregierung reiche als Stütze „für mehrere Monate, wenn wir den jetzigen Zustand beibehalten“, sagt Harald Oberhofer, Ökonom am WIFO und an der WU Wien. Dann müsste die Wirtschaft wieder in die Gänge kommen – oder mehr Geld zugeschossen werden.

Das wirtschaftliche Nadelöhr

Was die Coronakrise an volkswirtschaftlichen Kosten verursachen wird, könne man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorhersagen. „In den Wirtschaftswissenschaften haben wir gegenwärtig noch weniger Daten als in der Medizin. Wir sehen, wie sich die Arbeitslosigkeit entwickelt, aber was Unternehmen sonst noch melden oder wie sich die Exporte entwickeln – das wissen wir noch nicht. Es wird wohl Wochen bis Monate dauern, bis wir das seriös abschätzen können.“

Auch die Vorerfahrungen mit der Finanzkrise 2007 nützen in diesem Fall nur bedingt. Damals führte das Platzen einer Immobilienblase zu einer Krise im Bankensektor und gefährdete in weiterer Folge die Realwirtschaft. Heute ist es umgekehrt: Die Realwirtschaft steht zu einem großen Teil still – nun gilt es zu verhindern, dass diese Krise auch auf den Finanzsektor übergreift.

Patienten ohne Symptome

Vor einigen Wochen war in den Medien von einer gescheiterten Schutzmaßnahme auf dem Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ zu lesen. Die japanischen Behörden hatten das im Hafen von Yokohama vor Anker liegende Schiff unter Quarantäne gestellt – dabei aber zu wenig beachtet, dass der Erreger auch vom Bordpersonal verbreitet werden könnte. Was der Fall war: Mehr als 500 Passagiere erkrankten, infolge der Fehlentscheidung hatte sich die vermeintliche Quarantänestation in einen Virusinkubator verwandelt.

Das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess im Hafen von Yokohama.
Kazuhiro NOGI / AFP
„Diamond Princess“ im Hafen von Yokohama

Doch die Geschichte der „Diamond Princess“ hat auch einen positiven Aspekt. Wie ein Team um den japanischen Mediziner Shohei Inui kürzlich berichtete, waren 41 Prozent der Infizierten ohne Symptome. Ein statistischer Ausreißer? Oder könnte der Anteil der „Asymptomatischen“ auch in nationalen Statistiken so hoch sein? „Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unsere Hoffnung“, sagt Niki Popper. „Wir wissen es nicht. Aber wenn es so ist, dann kommen wir vielleicht schneller aus dieser Krise heraus, als wir gedacht haben.“

John Ioannidis von der Stanford University hält die an der „Diamond Princess“ gewonnenen Zahlen jedenfalls für geeignet, um eine Abschätzung zu machen. Seinen Berechnungen zufolge könnte die Todesrate der US-Bevölkerung in der Coronakrise zwischen 0,05 und einem Prozent liegen. Womit er zu einer deutlich optimistischeren Einschätzung gelangt als viele seiner Fachkollegen. Ob Ioannidis Recht hat, wird sich erst dann entscheiden lassen, wenn die Extrapolationen in belastbare Statistiken übergehen. Zumindest in einem Punkt stimmt der streitbare Statistiker mit seinen Fachkollegen überein. Nun, so schreibt er, brauche es vor allem eines: mehr Daten.